Kürzlich erhielt der bücherraum f von einer Künstlerin/Lehrerin aus Basel, in Englisch, eine Anfrage: Sie habe nach längerem Suchen im Internet entdeckt, dass im Katalog der Bibliothek schema f der ins Deutsche übersetzte Sammelband «Die Kompassrose» der US-amerikanischen Autorin Ursula K. Le Guin vermerkt sei, als einziger Fundstelle in der Schweiz; in dem befinde sich auch die Erzählung «Der Autor der Akasiensamen», den sie für den Unterricht gebrauche, und ob es wohl möglich sei, diesen Text in elektronischer Form zu erhalten? So weit im elektronischen Universum ist der bücherraum f noch nicht angelangt, aber immerhin konnte die relativ kurze Erzählung gescant und nach Basel geschickt werden.
Ursula K. Le Guin (1929-2018) war fünfzig Jahre lang eine der innovativsten Autorinnen in jenem Genre gewesen, das sich als Science-Fiction oder (kritische) phantastische Literatur nur unzureichend klassifizieren lässt; wobei sie überschiessende Fantasie mit technischem Fachwissen und einem sozialkritischen, feministischen Ansatz verband. Die in Frage stehende Erzählung von 1974 ist merkwürdig genug. Präsentiert werden in Form von wissenschaftlichen, ein wenig auf die Schippe genommenen Resumées Untersuchungen und Vermutungen zu neu erforschten hochkomplexen Sprachformen von Tieren und Pflanzen, verglichen damit sich die gerade eben laut einer Untersuchung verkündete «Erkenntnis», wonach Katzen über 256 Ausdrucksformen verfügten, plump ausnimmt.
Die im fraglichen Sammelband folgende Erzählung «Das neue Atlantis» von 1975 ist dann entschieden eindringlicher, in mehrfacher Hinsicht. Der Ausgangspunkt ist mittlerweile nicht mehr ganz so phantastisch: Manhattan ist bei Ebbe von vier Metern Wasser bedeckt, und an einigen Plätzen bilden sich Austernbänke, das Weisse Haus ist in die Höhe nach Aspen evakuiert worden, Florida hängt kaum noch mit dem Festland zusammen, und Sturmfluten beschädigen immer wieder die Infrastruktur im ganzen Land. Solche Veränderungen durch das Schmelzen der Polarkappen haben offenbar zu einer Gesellschaftsform geführt, die Repression mit Dysfunktionalität verbindet. Le Guin beschreibt, zuweilen mit sarkastischem Witz, wie die einstigen Superschneller-Superpanorama-Deluxe-Überland-kohlegetriebenen-Autobusse zu heruntergekommenen Lokalbussen verkommen sind, die häufig zusammenbrechen; wie durch Kerzenvorräte die ständigen Blackouts bewältigt werden sollen und die Rationierungsmarken kaum fürs notwendigste Essen reichen; aber auch, wie das Regime Recht zurechtbiegt, Unbotmässige in Umerziehungslager gesteckt oder in Sanatorien stillgelegt werden oder wie ein aufgeblähter Staats- und Polizeiapparat Heiraten verboten hat, um unerwünschte, ressourcenbelastende Schwangerschaften zu verhindern. Manches erinnert in dieser Hinsicht an die klassische Dystopie von Orwells «Neunzehnvierundachtzig». Das Besondere ist freilich die Umweltkatastrophe, die den Rahmen bildet und zugleich den Plot bis zum bitteren Ende vorantreibt. Die Ich-Erzählerin nämlich, eine Bratschenspielerin, lebt mit einem Wissenschaftler zusammen, der eben aus dem Lager entlassen worden ist und jetzt, während die Überwachungswanze in der Wohnung in Watte verpackt wird und gelegentliches Bratschenspielen die geflüsterten Gespräche abschirmen soll, von Kolleg:innen darüber informiert wird, dass diese die theoretische Forschung des Wissenschaftlers in einen praktischen Prototypen umgewandelt haben, der es erlaubt, Sonnenenergie ohne Umweg über irgendwelche Umwandlungstechnologien benützen zu können. So wie Blumen das Sonnenlicht aufsaugen, soll die entsprechend benannte «Blumenenergie» auskommen, ohne Notwendigkeit, die Erde etwa durch die Produktion von Sonnenkollektoren oder anderen Umwandlungsapparaturen weiter zu quälen und zu schinden. Die Gruppe verschwörerischer Wissenschaftler:innen stellt sich vor, wie die neue Technologie, die eigentlich keine mehr ist, jedem Einzelnen autarkes Leben ermöglichen und damit die zentralisierte Herrschaft unterlaufen könnte: ein verheissungsvolles Utopia einer neuen, befreiten Menschheit. Dagegen bleibt die Ich-Erzählerin skeptisch, und tatsächlich wird wenig später ihr Mann verhaftet und in ein Sanatorium eingeliefert. Sie selbst macht sich mit dem Notdürftigsten ausgerüstet auf den Weg in eine unzugängliche Wildnis, während, wie zu vermuten steht, das Regime sich die neue Erfindung zu eigen und damit die Herrschaft weiter absichern wird. Parallel dazu gibt es allerdings Gerüchte, wonach sich eine grosse neue Insel, Atlantis, aus dem schon den halben Kontinent bedeckenden Meer erheben soll, was sowohl eine Hoffnung wie eine neue Bedrohung darstellt. Das alles ist, fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung gelesen, atemraubend, deprimierend, traurig, aber auch unterhaltsam und, man wagt es kaum zu schreiben, ein wenig hoffnungsvoll im Vertrauen auf die niemals endende menschliche Widerborstigkeit.
In der Bibliothek schema f befinden sich nicht weniger als 16 Bücher von Ursula K. Le Guin.