Der Index Romanus und die Eigenheiten der päpstlichen Zensur.
Zugegeben, es braucht einen starken Magen, um sich durch das Vorwort von Dr. theol. et phil. Albert Sleumer, Lyzealdirektor, zum Index Romanus durchzukämpfen. Um zu erläutern, welche Bücher die katholische Kirche induziert hat, muss ja ansatzweise geschildert werden, was deren Verderblichkeit ausmacht. Dabei sind es nicht so sehr religiöse Irrlehren, die ihn in Wallung bringen, sondern ein durchaus weltlicher Schmutz, der die Welt und insbesondere die Jugend zu überfluten drohen. «Selbst freigeistigen Blättern wird nachgerade die literarische Vergiftung des Volkes zu stark», weiss Sleumer. Tatsächlich nehme die Zahl der «traurigsten Schundwerke» bedenklich zu. «Die Ausschlachtung der gemeinsten verbrecherischen Übeltaten, die literarische Verwertung von Giftmord-, Raubmord-, Lustmordprozessen zeugt von einer Gemütsverrohung, welche die schlimmsten Früchte zeitigen muss.» Die «widerwärtigste Liederlichkeit» macht sich breit, und dies gleich schon auf den ersten beiden Seiten von Sleumers Einführung.
Dagegen tut ein kräftiges Halt! von höchster Stelle Not. Zwei Argumente führt Sleumer für die päpstliche Zensur ins Feld des ideologischen Kampfs. Erstens übt der Staat auch Zensur aus, und erst recht die Protestanten, die, man stelle sich vor!, dazu auffordern, keine katholischen Autoren zu lesen. Was dem König recht ist, kann dem Papst nur billig sein. Zweitens aber hat die wahre Kirche, deren Aufgabe es ist, die «Menschen zur ewigen Seligkeit zu führen», geradezu eine Verpflichtung zur Zensur, und zwar eine «weit ernstere Verpflichtung» als der Staat. Das Recht dazu leitet sie ab, weil sie als eine «vollkommene, für sich bestehende Gemeinschaft von ihrem göttlichen Stifter begründet worden ist». Deshalb also diese 1559 eingeführte Verbotsliste:
Index Romanus. Verzeichnis sämtlicher auf dem römischen Index stehenden deutschen Bücher, desgleichen aller wichtigen fremdsprachlichen Bücher seit dem Jahre 1750.
Zusammengestellt auf Grund der neuesten vatikanischen Ausgabe sowie mit ausführlicher Einleitung unter Berücksichtigung des neuen Kirchengesetzbuches versehen von Dr. theol. et phil. Albert Sleumer, Lyzealdirektor.
Siebente verbesserte und vermehrte Auflage. Mit kirchlicher Genehmigung. Osnabrück. G. Pillmeyer´s Buchhandlung (Julius Jonscher) 1920
Noch vor den LeserInnen hat der Verfasser einen guten Magen gebraucht, um sich durch diese Flut der fortschreitenden Entsittlichung durchzukämpfen. Aber tapfer hat er die Gefahren von sex&crime auf sich genommen, da er sich doch in zahllosen «Schweinereien», «sexueller Verkommenheit» und «dirnenhafter Mode» suhlen musste. Natürlich kommt dem Sittenkämpfer Sleumer auch der Antisemitismus ganz natürlich: «Möchten doch alle Edeldenkenden sich zum Kampfe wider die Unzucht- und religionsfeindliche Skandalpresse, die nach dem Urteile Einsichtiger gerade am jüdischen Gelde ihren stärksten Rückhalt hat und durch jüdische Schriftsteller und Schreiber, zum Teil mit Hilfe der Sozialisten, verbreitet wird, zusammenschliessen, ehe es in Deutschland so weit kommt wie im entchristlichten Frankreich.» Oder auch: «Wann wird das deutsche Volk sich aufraffen, um den ausländischen (galizisch-polnisch-russischen) Schmutzfinken und ihren inländischen Ebenbildern es zum Bewusstsein zu bringen, dass deutsch sein so viel wie ‹anständig sein› bedeuten soll? […] Jeder Einsichtige wird darum doch die Hersteller solcher Schmutzfilme – und das weiss selbst der deutsche Michel, dass 95 Prozent der Filmfabrikanten – Juden sind! – als gemeine Verführer betrachten, denen nur der eigene Geldbeutel heilig ist.»
Von der falschen Theologie bis zur unschönen Literatur
Nun also, was steht angesichts solcher Unappetitlichkeiten auf dem Index? Es sind Bücher aus vier verschiedenen Bereichen: Theologie, Philosophie, Geschichte und Literatur. Da sind zuerst einmal die Vor-Aufklärer, die die westliche Moderne innerhalb oder an der Grenze des religiösen Rahmens begründet haben, Francis Bacon, Giordano Bruno, Pascal, Spinoza, Montaigne. Unfehlbar auch die Begründer einer weltlichen Wissenschaft vom Menschen wie Descartes, Hobbes, Locke.
Dann kommen schon die Aufklärer des 18. Jahrhunderts, an ihrer Spitze Voltaire, unter dessen Namen nicht weniger als 31 Schriften aufgelistet sind, die, zur Sicherheit, auch noch jeweils unter den einzelnen Titeln als dem Bannfluch verfallen gekennzeichnet werden.
Natürlich bilden sich die Kämpfe gegen die abtrünnigen Stämme der einen unteilbaren Kirche ab, wobei die einschlägigen Schriften von Luther, Zwingli, Calvin usw. pp. schon ganz selbstverständlich verbannt und verbrannt worden sind und nicht mehr im Index erwähnt werden müssen. Viel grössere Gefahr droht von den Rändern, etwa durch Geschichtsschreibungen, insbesondere französische und italienische, die nicht umhin kommen, das einst weltliche Papsttum kritisch darzustellen oder es gegenüber dem Gottesgnadentum der Kaiser abzuwerten. Dazu gehört etwa Léonard Simonde de Sismondi, dieser ungemein fruchtbare und originelle Genfer Historiker und Ökonom, mit seiner sechzehnbändigen Geschichte der italienischen Freistaaten im Mittelalter, der politischen und ökonomischen Fortschritt in der Befreiung hergebrachter Fesseln sah und damit, nebenbei gesagt, zu einem geradezu avantgardistischen Kämpfer gegen die Sklaverei wurde, der etwa den hoffentlich in naher Zukunft freigelassenen Sklaven das Recht auf eine Entschädigung zusprach.
Im Innern der Theologie finden sich Verbote gegen Bücher und Pamphlete, die sich mit solch heiligen Sachen wie dem Zölibat für Priester, dem Jesuitenorden und dem Marienkult auseinandersetzen oder falsche Visionen und Heilige zur Verehrung anbieten: Fragen, die den religiösen Alltag mehr prägen als Fragen zur Transsubstantiation von Brot und Wein. Doch welche abgründigen Sünden verbergen sich wohl im Annuaire de l´institut canadien pour 1868 et 1869 oder in einem Buch von Pierre-Augustin Metay mit dem ewig gültigen Titel Pièces intéressantes nécessaires à examiner?
In der Philosophie ist Immanuel Kant immerhin mit der Kritik der reinen Vernunft auf den Index geraten, während Hegel wohl als ein wenig zu obskur befunden wurde. Überhaupt muss man den katholischen Instanzen da einige Laxheit vorwerfen, da weder Schopenhauers Pessimismus noch Nietzsches Zynismus eines Verbots für würdig erachtet worden sind. Nicht mal die anderen grossen Zerstörer der göttlich zentrierten Welt, Charles Darwin und Sigmund Freud, haben es auf den Index geschafft; wobei von ersterem immerhin der Grossvater Erasmus Darwin vertreten ist.
Auch das Politische wird nicht so ganz in seiner Gefährlichkeit begriffen: Zwar tauchen Pierre-Joseph Proudhon und Charles Fourier auf; aber der grosse Alte oder der alte Grosse aus Trier fehlt vollkommen.
Wie halten es die Päpste mit den Schweizern, jenseits der Schweizergarde? Die Anwesenheit des Antistes Johann Jacob Breitinger als sechstem Nachfolger Zwinglis versteht sich von selbst; schon etwas aparter ist dann Claudius Schobinger, der 1701 einen Schwyzer Kapuziner als «schlimmen Alchemisten» entlarvt zu haben glaubte. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts trifft es den Zürcher Politiker Johann Conrad Heidegger mit seinen Erwägungen zur Abschaffung der kirchlichen Orden und den Luzerner Aufklärer Joseph Anton Felix von Balthasar mit einer Schrift über die Freiheit im Schweizerlande. Dann sind 1835 die Luzerner Behörden dran, die sich im konfessionellen Streit in der Schweiz theologisch zu weit vorwagen. Aber auch der gesellschaftspolitisch eher konservative Johannes Georg Zimmermann hat es mit seinem Traktat Ueber die Einsamkeit auf die Verbotsliste geschafft, was im Fall des Volksaufklärer Heinrich Zschokke plausibler wirkt.
Die Ausgabe im bücherraum ist ziemlich zerfleddert, ob von heftigem Gebrauch oder allgemein durch den Lauf der Zeit, lässt sich nur schwer erschliessen. Zuweilen erinnert der Index an die Schweizer Staatsschützer in der Fichenaffäre: Ungemein fleissig, sehr breites Schleppnetz, durchgehende Ignoranz.
Immerhin wird der Kampf gegen das Unsittliche entschlossen und konsequent geführt. Da verschlägt es den Zensoren sogar die deutsche Sprache. Was verboten ist, wird lakonisch vermerkt: Omnes fabulae amatoriae. Das gilt für Balzac, D´Annunzio, Dumas (Vater und Sohn), Feydeau, George Sand, Stendhal, Sue. Gustave Flaubert wird immerhin die Ehre zuteil, dass nur jene beiden Werke, die allzu unsittlich sind, mit Namen genannt werden, während es bei Emile Zola schlicht heisst: opera omnia. Allerdings fällt auf, dass keinerlei Deutsche als oratores fabulae amatoriae aufgespürt werden konnten.
Verinnerlichte Zensur
Wer sich mit dieser 64-seitigen Liste mit knapp 5000 Titeln halbwegs beruhigen will, dem versichert Sleumer, der Index umfasse natürlich nur einen Bruchteil der Verurteilungen, sozusagen die Spitze des Eisbergs, auf dem die gottesfürchtige und gesittete Welt aufzulaufen droht. Denn rund um den Namens-Index herum ist ein ganzer Sperrgürtel von «allgemeinen Indexregeln» errichtet. Sie sollen die Zensur verinnerlichen, so dass die Gläubigen die Kriterien selbst anwenden und viel mehr Werke auf den persönlichen Index setzen.
Das beginnt mit der Heiligen Schrift selbst. Bibelverbote gibt es beinahe schon so lange wie die Kirche. Natürlich können nicht alle Neuausgaben über die Jahrhunderte hinweg auf den Index gesetzt werden, aber die allgemeinen Richtlinien sind klar: Zulässig ist sie nur mit angemessenen Kommentaren. Durchaus, verteidigt sich Sleumer empört, könne die Bibel mittlerweile entgegen aller anderslautenden, vor allem protestantischen Verleumdungen in Landessprachen angeboten werden, aber eben: Einen Kommentar braucht es dazu. Bücher freilich, welche die Religion oder die guten Sitten planmässig angreifen, gelten durch «Naturgesetz wie durch das kirchliche Gesetz als verboten». Bei unsittlichen Büchern gilt eine zusätzliche Warnung, da eine «zwischen den Zeilen versteckte Sinnlichkeit» insbesondere für ein jugendliches Gemüt beinahe gefährlicher sei als der nackte Schmutz.
Ein paar geradezu jesuitische Kapriolen müssen dann allerdings bei der Frage geschlagen werden, ob katholische Buchhändler fragwürdige Bücher verkaufen dürfen. Ja, wenns kommerziell nicht anders geht, lautet die beinahe schon salomonische Lösung. Und dann wäre da noch der Fall Victor Hugo. Dessen Les Misérables sind sozial wie religiös einigermassen dubios und deswegen auf dem Index. Freilich mit einem Sternchen versehen. Denn, so erläutert der Lyzealdirektor, es gebe eine lesbare, von anstössigen Stellen gesäuberte Version des Werks – die hat er selbst hergestellt, und die «Indexkongregation» hat ihm «auf sein Ansuchen hin die ausdrückliche Genehmigung erteilt, unter Beobachtung obiger Grundregel das bedeutende Werk […] in deutscher Übersetzung neu erscheinen zu lassen». Womit das Suhlen in Schmutz und Schund und Sumpf doch noch etwas zutage gefördert hat.
Der auf wikipedia als «bedeutender Latinist und Theologe» charakterisierte Sleumer widmete sich in den zwanziger und dreissiger Jahren vor allem der Volapük-Bewegung, dem Projekt einer Universalsprache, die schliesslich von Esperanto verdrängt wurde – wie man in Volapük Antisemitismus ausdrückte, bliebe abzuklären. Der Index Romanus seinerseits wurde bis 1962 nachgeführt und erst nach dem zweiten Vatikanischen Konzil sistiert.
Stefan Howald
Der Index Romanus befindet sich im bücherraum f in der Abteilung R (Nachschlagewerke).