Anarchie und Politpunk bücherräumereien XLIV

Was von uns auch bleibt: Bücher. Tomi Geiger, letztes Jahr viel zu früh verstorben, hat sie in Überfülle besessen, als Buchhändler&Verleger. Und als Leser, selbstverständlich.

Einige davon dürfen jetzt in die Politisch-Philosophische Bibliothek im bücherraum f umziehen. Zwei Themen stechen hervor und interessieren besonders: Anarchismus und Dada. Vielleicht ist das auch nur ein Thema.

Das zeigt sich gleich beim ersten übernommenen Titel, Erich Mühsams «Ascona. Eine Broschüre», mit dem berühmt-berüchtigten Titelbild des nackten Erich bei der Gartenarbeit auf dem Monte Verità. Die Broschüre gesellt sich vorzüglich zu dem schon im bücherraum stehenden Erzählband «Dada, Ascona» von Friedrich Glauser. Die Verlagsgeschichte des Mühsam-Bändchens ist ein bisschen verwirrlich. Bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um einen fotomechanischen Nachdruck durch den Verlag Klaus Guhl, Berlin, und zwar in zweiter Auflage. Ohne Erscheinungsjahr. Was sich freilich anderweitig eruieren lässt: 1978. Ursprünglich ist der Band, wie getreulich vermerkt wird, im Verlag von Birger Carlson in Locarno erschienen, ebenfalls ohne Jahreszahl, die sich ebenfalls anderweitig identifizieren lässt: 1905.

Mehrfach vertreten ist der Anarchoökologe Murray Bookchin, etwa mit «Hierarchie und Herrschaft», dazu stehen etliche Bände von Max Nettlau nebeneinander. Der Österreicher Nettlau (1865-1944) war vor allem Bibliomane, Archivar, Bibliograf, mit einer riesigen Sammlung von und umfassendem Wissen über anarchistische Publikationen, und als Dokumentalist des Anarchismus hat er unzählige Artikel über seine Funde und seine entsprechenden Einschätzungen geschrieben. Diese kleineren Arbeiten sind teilweise nur in abgelegenen Zeitschriften oder als Broschüren in Kleinstauflagen erschienen, seit den 1970er-Jahren erneut in abgelegenen Zeitschriften nachgedruckt worden oder vergessen gegangen; manche Manuskripte liegen noch ungedruckt im Nachlass im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam: wahrlich ein zerstreutes Werk.

Liechtenstein und Amsterdam

Nettlaus grosses Hauptwerk war allerdings die «Geschichte der Anarchie», ab 1925 veröffentlicht, auf sieben Bände angelegt, von denen zu Lebzeiten nur drei im Syndikalist-Verlag erschienen sind. Um 1980 wurden die ersten Bände vom Bremer Impuls-Verlag nachgedruckt (ohne Verlagsjahr); etwa zur gleichen Zeit wurden die Bände IV und V als Raubdruck sowie ein «Ergänzungsband» publiziert, vom Topos Verlag in Ruggell/Liechtenstein, der laut Website auf den Nachdruck von Werken spezialisiert ist, deren Copyright vermutlich abgelaufen ist; mit politischer Schlagseite, da sich auch Erich Mühsam, Rudolf Rocker und andere Anarchisten im Programm finden, zu ziemlich saftigen Preisen (Liechtenstein!). Die im Manuskript vorliegenden Bände VI und VII von Nettlau sind weiterhin unveröffentlicht. Seit 2020 hat sich ein Team die Herausgabe aller Bände zur Aufgabe gemacht, und zwar sowohl in gedruckter Form wie auch Online – das wird in einer gediegenen Website aufbereitet, siehe https://www.geschichte-der-anarchie.de/ Als Trägerschaft treten das Amsterdamer Institut sowie der Libertad-Verlag in Potsdam auf, der die libertäre Zeitschrift espero herausgibt.

Tatsächlich, Nettlaus «Geschichte des Anarchismus» ist in historischer Hinsicht unverzichtbar. Im Übrigen bemerkenswert geschrieben. Obwohl viel bibliografisch aufgelistet wird, liest sich das erstaunlich flüssig, und zugleich sehr subjektiv, mit unverblümten Wertungen zur Sekundärliteratur und Eingeständnissen, wenn Nettlau etwas (noch) nicht gelesen hat.

Zwischen den ersten Bänden der «Geschichte» veröffentlichte Nettlau, 1927, das Buch «Eugenik der Anarchie: Texte zu Geschichte und Theorie des Anarchismus». Der zeitgenössische Begriff der Eugenik unheiligen Angedenkens irritiert ein wenig. Nettlau skizziert damit seine Einschätzung des gegenwärtigen Anarchismus, was zugleich eine Absichtserklärung fürs Buch bedeutet: «Der gesunde Keim ist da, aber auch der gesündeste Keim bedarf günstiger Entwicklungsverhältnisse und diese, die Eugenetik der Anarchie also, zu schaffen, kann durch diese Skizze gewiss nicht erreicht werden, sollte aber durch sie wenigstens angeregt und zur Diskussion gestellt werden.» Man kann nur hoffen, dass er das nicht wirklich so biologistisch verstanden hat wie es sich von heute aus anhört. Die vorliegende Ausgabe ist übrigens die Neuausgabe durch einen weiteren kleinen Verlag, Büchse der Pandora, und zwar von 1987.

England und Spanien

Im ersten Band von Nettlaus «Geschichte der Anarchie» mit dem Titel «Der Vorfrühling der Anarchie» findet sich ein ganzes Kapitel, das IX., über William Godwin. Für Nettlau gehörte der noch selbstverständlich zum linken Bildungsgut, «Godwins Leben ist bekannt genug», schreibt er einleitend und nennt dann einige Aufsätze um 1900, die sich unter verschiedenen Aspekten mit dem englischen politischen Denker beschäftigen. Mittlerweile ist Godwin (1756-1836), zumindest im deutschsprachigen Raum, vergessen. Oder in den Schatten gestellt, für einmal ein Mann durch Frauen: Durch seine Ehefrau Mary Wollstonecraft, Verfasserin der protofeministischen Schrift «A Vindication of the Rights of Woman», und durch seine Tochter Mary Shelley, Schöpferin des «Frankenstein». Für Nettlau aber gilt Godwin als Verfasser des «ersten grundlegenden anarchistischen Werks». Und er belegt das mit verschiedenen Zitaten von Godwin, wonach «alle Regierung notwendig unserer Vervollkommnung entgegenwirke», die – gewaltlosen – Revolutionen als «allgemeine Erleuchtung» den gesellschaftlichen Fortschritt vorantrieben und man den Staatsapparat zu kleinen autonomen Entscheidungsinstitutionen umbauen müsse, die schliesslich auch entfielen, bis jede Angelegenheit von den Betroffenen von Fall zu Fall geregelt werde.

Was Nettlau noch nicht bearbeiten konnte und wo der Anarchismus zur Praxis wurde, war Spanien ab 1936, in der dortigen revolutionären Republik, die dann von den faschistischen Kräften im Bürgerkrieg 1939 zerschlagen wurde. Dazu steht nun im bücherraum ein kleiner Band, quadratisch im Format: «The Spanish Revolution 1936». Das Cover eignet sich das Signet der anarchistischen Bewegung an und nennt deren Protagonisten: die CNT, Konföderation anarchosyndikalistischer Gewerkschaften, und die FAI, Iberische Anarchistische Föderation, der parteimässige oder militante revolutionäre Arm der Gewerkschaften, in dessen Namen gelegentlich auch Attentate verübt wurden. Der Band enthält schöne, heroische Fotografien aus dem CNT-Archiv, das sich wiederum in Amsterdam befindet. Etwa eine Aufnahme von lesenden Soldaten in einer Bibliothek hinter der Front. Versehen mit zweisprachigem Text, englisch und holländisch. Ja, holländisch. Tatsächlich ist das Buch in Holland erschienen, 1986. Es fühlt sich etwas steif, ungelenk an, doch dann findet sich bei genauerer Untersuchung vorne und hinten im Kartonumschlag je eine Schallplatte, Singles, muss ich einem jüngeren Nachhilfeschüler erklären: eine Platte mit einem Lied pro Seite, je eine A- und B-Seite. Auf den Computer übertragen, tönt Politpunk von 1986 aus Holland aus den Lautsprechern. Und zwar von der Gruppe The Ex, 1979 gegründet und offenbar immer noch politisch-musikalisch unterwegs. Die vier Lieder sind spanisch und englisch gesungen, holländisch hätte wohl nicht den selben anarchistisch internationalen Groove.

Obwohl, hatte ich gedacht, es eine Tradition holländischen Anarchismus gibt, nicht gerade als politische Bewegung, aber durch verschiedene TheoretikerInnen. Henriette Roland Holst war mir begegnet, in späteren Jahren als religiöse Sozialistin aktiv, auch Hermann Gorter war mir vage in Erinnerung. Aber beim Nachforschen hat sich herausgestellt, dass beide eher linkskommunistischen Strömungen zuzurechnen waren, eine falsche politische Zuordnung meinerseits, die dem unverbrüchlich anarchischen Tomi nicht gepasst hätte.

Ebenfalls zu Spanien findet sich ein Band von Augustin Souchy: «Anarchosyndikalisten über Bürgerkrieg und Revolution in Spanien». Erstmals ist der Band erschienen unter dem Titel «Nacht über Spanien» im Verlag Die freie Gesellschaft, Darmstadt-Land, wieder mal ohne Erscheinungsjahr. Ja, Zeit ist für AnarchistInnen ein Disziplinierungsinstrument. Hier liegt der Band in einer Neuauflage des März-Verlags von 1969 vor. Souchy spricht über die spanischen Freiheitskriege der Vergangenheit, und er stellt eine Tradition her, die auf den Befreiungskampf gegen die napoleonische Besatzung zurückgehe, während dem Guerillataktiken erprobt worden seien. Das wiederum wird, um einen anderen Faden aufzunehmen, in einem Roman des schottischen Schriftstellers Stuart Hood ebenfalls thematisiert, «Das Buch Judith», 2020 bei der edition 8 in Zürich erschienen. Hoods Roman verbindet in einer Art Rahmenhandlung gleichenfalls drei Zeiten und Ebenen von spanischen Freiheitskriegen, eben die Befreiungskriege gegen Napoleon – allerdings von liberal-nationalistischen Kräften instrumentalisiert –, den Bürgerkrieg 1936-39 und den Kampf gegen Franco 1975, als der Diktator und sein Regime in den letzten Zügen liegen. Ich kann das Buch nur empfehlen, und dies nicht nur, weil ich es übersetzt habe.

Schliesslich, die Schweiz

So setzen sich die Entdeckungen und Lektüren fort, aber ein Fund sei noch erwähnt. Einem Bändchen von Tristan Tzara, «7 DADA Manifeste», herausgegeben in der edition Nautilus, 1978 in der zweiten Auflage, findet sich ein vervielfältigtes Schreiben beigelegt. «Aufruf zur TELEBUEHNE ʼAntigoneʼ vom 2. Juli 1980» heisst es zu oberst; und die Lesenden werden aufgefordert, per Brief die Frage zu beantworten «Ist Widerstand gegen die Staatsgewalt berechtigt – und wann?», und wer, wird nachgeschoben, Interesse an einer Teilnahme an der Sendung habe, solle dies auf dem Brief vermerken. Datiert ist das hektografierte Blatt vom 2.6.1980 und unterschrieben vom Produzenten der Telebühne, Max P. Ammann. Jene Telebühne aber ist längst in die Annalen der Schweizer Polit- und Mediengeschichte eingegangen, weil sie die erste Live-Sendung war, die, unter der Leitung des späteren Fernsehdirektors Andreas Blum, abgebrochen wurde, da Mitglieder der Zürcher «Bewegung» die freundliche Einladung gerne angenommen hatten und die ganze Sendung durch allerlei Aktionen durcheinander brachten. Das Blatt scheint echt zu sein, aber vielleicht ist es auch eine nachträgliche Vor-Rekonstruktion, denn wer weiss das schon, wenn Dada und Politik aufeinander treffen, so wie es auch bei Peter Weiss geschehen ist – aber das ist dann wieder eine andere Geschichte.

Stefan Howald