In der Zivilgesellschaft bücherräumereien (XXXXIII)

Eine kleine Geschichte des Kulturmagazins, das ab 1977 rund 20 Jahre lang in der Schweiz die Debatte um alltagskulturelle Themen und eine demokratische Kultur beförderte.

Eine Lücke ist geschlossen: Vom Kulturmagazin stehen im bücherraum f jetzt die ersten fünf Nummern. Raimund Meyer hat sie uns freundlicherweise aus seinem Fundus geschenkt. Nun ist die Sammlung in den wichtigen frühen Jahren vollständig; es fehlen nur noch wenige Nummern der späten Hefte bis zur Nummer 114 vom Dezember 1996.

Das Kulturmagazin erschien erstmals im Februar 1977 mit dem Untertitel «Demokratische Kunst und Kulturpolitik»; nach zwei Jahrzehnten, Anfang 1997, stellte es sein Erscheinen ein. Die Zeitschrift lässt sich als Ausdruck des Übergangs von der parteipolitischen zur kulturellen Linken lesen. Gestartet wurde mit einem klaren Programm: «Kulturmagazin setzt sich zum Ziel, das Verständnis für demokratische Kunst und Kultur zu fördern und das Schaffen engagierter und fortschrittlicher Künstler einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen… Kulturmagazin will ein Forum für die aktuelle kunst- und kulturpolitische Auseinandersetzung bilden. Es bemüht sich, Werke und Standpunkte von Künstlern, die in den Reihen der Emanzipationsbewegungen von Völkern der dritten Welt stehen, in unserem Lande publik zu machen. Kulturmagazin sucht die Zusammenarbeit mit allen fortschrittlichen Kulturorganisationen … erstrebt eine aktive Mitarbeit der Künstler … wünscht sich eine breite, demokratische Öffentlichkeit und eine aktive Teilnahme seiner Leser.» Das sind teilweise die damals gängigen politischen Sprechblasen, aber schon die Konzentration auf Kunst und Kultur bedeutete einen Paradigmawechsel, und tatsächlich zeigte sich ein verstärktes Bemühen um gemeinsame Diskussionen und neue Themen. Und dies sechs Mal pro Jahr. In der grossen Redaktion sassen führende Kulturwissenschaftler, von Guido Magnaguagno (Bildende Kunst) über Urs Bircher (Theater), Roland Gretler (Fotografie), Fred van der Kooy (Film), Kjell Keller (Musik), Franz Rueb (Literatur) bis zu Beat Wyss (Bildende Kunst).

                          

Der erste Jahrgang begann noch halbwegs traditionell, mit dem Versuch, eine andere – engagierte, alternative, demokratische – Tradition zu re-etablieren. Die Nummer 1 galt dem Grafiker Clément Moreau. Die Nummer 2 stellte den linken Dokumentarfilmer Joris Ivens ins Zentrum. Dazu kamen Fotografien von Hans Staub.

 

Fussball und ein früher Eklat

Mit Nummer 3/4 dann allerdings weitete sich das Themenspektrum. Es ging nämlich um – Fussball. Der war zuvor auf der Linken eher verächtlich abgetan worden, als belanglose Zerstreuung oder als Opium der Massen. Doch nachdem sich der Wind einst erhoben hatte, begann er sich langsam zu drehen. Mitte 1975 hatte in Zürich das erste Fussballspiel zwischen zwei linken Gruppierungen stattgefunden, zwischen dem FC Bakunin und dem FC Soldatenkomitee. Zwei Jahre später wurde, um die Spielbewilligung auf städtischen Fussballplätzen zu erhalten, als ordentlicher Verein die Alternative Liga Zürich gegründet; deren frühe Geschichte hat Christoph Kohler auf der Website der ALZ beschrieen.

Man kann das Kulturmagazin als Ausdruck und zugleich treibende Kraft solcher populärkulturellen Bewegungen sehen. Die Nummer vom Sommer 1977 zentrierte sich um ein sehr langes, auch heute noch lesenswertes, Interview mit Günter Netzer. Der äusserte zwar einige Kritik am Fussballgeschäft, wollte sich und sein Fussballspielen aber nicht politisch vereinnahmen lassen. Umrahmt war das Interview mit «Exklusivbeiträgen» zur Fussballkunst von Otto F. Walter, Dieter Meier, Walter Matthias Diggelmann, Mario Comensoli und andern – das wirkte schon beinahe wie ein kollektives Coming Out. In Nummer 5 wurde dann der erste erfolgreiche Auftritt eines eigenen Kulturmagazin-Fussballensembles gemeldet.

Kaum gegründet, war das Magazin auch schon in Kontroversen verwickelt. In der ursprünglichen Redaktion sass neben zwölf Männern eine einzige Frau. Das sollte durch eine autonome Frauengruppe halbwegs kompensiert werden. Diese bereitete unter dem Titel «Im Schatten des Narziss» ein Sonderheft zu schreibenden Frauen vor, doch kam es in der Zürcher Lokalredaktion zum Eclat. Wie sich einzelnen Stellungnahmen entnehmen lässt, wurde offenbar Kritik in einer Form geäussert, die sich nicht anders als sexistisch bezeichnen lässt; obwohl einige Exponenten zu schlichten versuchten, gab die Frauengruppe mit prominenten Mitgliedern wie Bice Curiger, Isolde Schaad, Charlotte Spindler und Kathrin Steffen in Heft 5 ihren sofortigen Austritt aus dem Projekt bekannt, mit den besten Wünschen für das «Gedeihen des ersten schweizerischen Männermagazins».

Nach kurzer Ernüchterung ging es weiter. Mit der Nummer 6 im Dezember 1977 wurde die theoretische Fundierung für die «kulturelle Wende» nachgeliefert, nämlich mit einer Darstellung von Antonio Gramscis theoretischem Unterfangen, in den vielfältigen Organisationen der Zivilgesellschaft die bürgerliche Hegemonie zurückzudrängen, die Befestigungsanlagen jenseits der politischen und ökonomischen Zitadellen zu erobern. In Nummer 7 wurde mit dem Thema Fasnacht die Theorie am Exempel erprobt. Diese Mischung blieb in der Folge das durchaus erfolgreiche Konzept: Analysen neuer populärkultureller Phänomene, Erinnerung an verschüttete Traditionen und die Kultur der dritten Welt, aber auch eine kritische Begleitung der klassischen «Hochkultur». So enthielt die Doppelnummer 9/10 (1978) Artikel über das «Subventionstheater in der Krise» und gleich daneben über «Rock-Musik und Warenästhetik».

 

Aufbruch in die Regionen

Was die «Zusammenarbeit mit allen fortschrittlichen Kulturorganisationen» betraf, so bestanden persönliche aber auch thematische Beziehungen vor allem zu den Poch, insbesondere zu deren Basler Sektion, und ihnen nahestehenden ExponentInnen der Kulturszene. Der Bezug zu anderen Gruppen und Organisationen blieb eher kursorisch; eine ursprünglich geplante schweizweite Kulturagenda zu alternativen Veranstaltungen konnte sich nicht etablieren.

Die Organisationen der Neuen Linken wurden durch die Zürcher – und Berner und Lausanner – Jugendbewegung von 1980/81 auf dem falschen Fuss erwischt und herausgefordert. Das Kulturmagazin reagierte darauf in Heft 22/23 vom September 1980 vorerst eher indirekt. Man wolle sich, hiess es da, um «medienpolitische Implikationen» der Rebellion kümmern; ein Beitrag stellte das Alternative Radio Zürich vor, das ab 1983 unter dem Namen LoRa bis heute sendet. Heft 25 platzierte dann das Anarchie- und Autonomie-Zeichen aufs Titelblatt, und in der Nummer 28/29 vom Oktober 1981 versuchte das anonym – aber kaum verhüllt – figurierende Duo O-the-Punk/Redshoe, wie in anderen Organen, die Einordnung in eine übergreifende Theorie- und Politdiskussion durch eine Analyse von «Zerfall und Rekonstruktion des Politischen».

Heft 20 hatte sich dem Massentourismus gewidmet, kritisch natürlich, aber auch nach Alternativen gesucht. Heft 24 wandte sich dem Essen und Kochen zu, behandelte die Industrialisierung des Essens und die Coca-Colonisation, stellte aber auch lokale Initiativen wie Frauenbeizen vor. Dennoch oder gerade deshalb musste die Redaktion halbwegs ironisch auf den Einwand eingehen, man wolle in typisch linker Haltung alle Vergnügungen madig machen.

Bemerkenswert waren in den folgenden Nummern «Regionenreports» zu Graubünden (Heft 22/23), dem Aargau (Heft 27), Fribourg (Heft 28/29), dem Tessin (Heft 33) und der Innerschweiz (Heft 34/35). Während zu Graubünden zwei Bündner in einer materialreichen, dichten und vielschichtigen Reportage zu Wort kamen, liessen sich in anderen Beiträgen nicht immer alle metropolitanen Vorurteile abstreifen. Im Heft über den Aargau heisst ein Beitrag «Jugend in der Provinz: Pssst – Aarau schläft», und für die Innerschweiz wurden eher konventionell die verschiedenen Kultursparten auf «progressive» Inhalte abgeklopft.

Im Januar 1982 konnte das Kulturmagazin ein erstes Jubiläum feiern: fünf Jahre und dreissig Nummern. «Kampf seit … Nummern» wurde auf dem Titelblatt um die Zahl 30 gesprayt, und das Cover zeigte eine Torte, deren Kerzen sich auch als kleine Dynamitstangen lesen liessen. Tja, die Titelblätter: Das waren öfters eigens für das Kulturmagazin geschaffene Zeichnungen und Illustrationen, mit variabler Qualität.

 

Amerikanismus und Technikkritik

Die einigermassen erneuerte Redaktion suchte und erkannte bald neue Themenfelder: Tod und Sterben (34/35) oder Sprache (Heft 39). Die Nummer 44 (1984) widmete sich dem (linken) «Amerikanismus» und versuchte eine differenzierte Linie. «Wir sind zwar Anti-Amerikaner, aber süchtig nach Amerika. … So sind wir Kolonisatoren und Kolonisierte in einer Person: am Sonntag protestieren wir gegen den Imperialismus, am Montag schlüpfen wir in unsere Jeans und essen Hamburger.» Aber war das nicht seinerseits eine Verfestigung imaginierter Vorstellungen, denn protestierte damals wirklich jemand am Sonntag und assen die Kulturmagazin-LeserInnen wirklich Hamburger? Urs Hostettler verdeutlichte den Vorwurf jedenfalls einiges konkreter am Verhältnis von Essen und Kultur auf Alternativfestivals. Und der eminente Musikkenner Martin Schäfer zeigte am Beispiel der Rockmusik, wie die herrschende US-Dominanz nach dreissig Jahren durch ein europäisch-afrikanisch-amerikanisches Stilgemisch abgelöst wurde.

                          

Zum Jubiläum von fünfzig Nummern erlaubte sich die Redaktion einen selbstbezüglichen Scherz. Heft 50 widmete sich sozusagen metatheoretisch der grassierenden Jubiläumskultur, während sich eine Doppelnummer 49/51 darum herum rankte.

Der als politische Wende begriffene konservative Wahlsieg in Deutschland im Herbst 1982 war schon gelegentlich als Reflexionsfolie aufgetaucht, wurde aber erst ab 1986 thematisch explizit. In der Nummer 63 vom Juni 1987 ging es um Eliten, freilich nicht als soziologische Kategorie der Bürgerlichkeit, sondern einerseits als politisches Konzept von links, mit einer Debatte um den elitären Anspruch einer Avantgardepartei, andererseits mit einem Plädoyer für eine kulturelle Elite, die sich, in welcher Form auch immer, dem Mainstream entziehe – beides nicht gerade neue Ansätze. In der Nummer 64/65 wurde im gleichen Jahr unter dem Stichwort «Utopieverlust» ein grosses Gespräch inszeniert, mit SP-Regierungsrat Remo Gysin, dem Philosophen Arnold Künzli. dem Schriftsteller Martin R. Dean und dem Historiker Jakob Tanner. Alle sahen sie die traditionell aufklärerische, an Wissenschaft und Technik sowie an einen gradlinigen Fortschrittsglauben geknüpfte Utopie als gescheitert an. Während sich Gysin und Künzli darum stritten, ob eine Utopie auch aus kleinen Schritten bestehen könne, zeigte sich Martin R. Dean als fundamentalistischer Pessimist: Die einst gefeierte Technik sei umgeschlagen in die Strategie einer Eliminierung des Menschen und nicht mehr in den Griff zu bekommen. Dagegen hielt Jakob Tanner daran fest, dass deren Gebrauch immer wieder neu auszuhandeln sei. Die folgende Diskussion findet von heute aus gesehen Anknüpfungspunkte: Mit wem soll man reden, und von wem ist noch etwas zu erwarten? Dean wetterte auf einer abstrakt theoretischen Ebene gegen das individuelle Köcheln «metaphysischer Süppchen» und fand die eingängige Formulierung: «Lieber areligiös und depressiv als religiös und euphorisch». Tanner allerdings sah, dass man im praktischen Streit angesichts eines neu entstandenen Patchworks an Ideen und Haltungen wohl einen neuen Umgang finden müsse.

In folgenden Nummern wurde das Thema, das immer auch eine Orientierungskrise markierte, gelegentlich implizit weitergeführt. Etwa in Nummer 69 (1988) mit dem Thema «Wie Gott in Frankreich» eher spielerisch, in Heft 70/71, «Das goldene Zeitalter», kulturgeschichtlich.

 

Ein Ende mit Poesie

Einige Mitgründer des Kulturmagazins hatten zu Beginn vor allem ihren Namen und ihr Prestige zur Verfügung gestellt, sich aber bald wieder vom Projekt gelöst. Andere blieben länger dabei. Etwa ab Heft 35 stabilisierten vor allem Stefan Heilmann und Dani Schönmann das Projekt, ein wenig später verstärkt durch Rosemarie Heilmann. Mit der Nummer 70 Ende 1988 waren, abgesehen von Beat Wyss, alle Gründungsmitglieder aus der Redaktion ausgeschieden. Mit der Nummer 82 vom Juni/Juli 1990 schrumpfte die Redaktion von neun auf fünf Leute.

Eine breite kulturelle Abstützung wurde damit immer schwieriger. Die Nummer 81 vom Juni/Juli 90 fragte, nach der Wende 1989/90, «Triumph der Marktwirtschaft?», und damit ähnelte das Kulturmagazin anderen, dezidiert politisch ausgerichteten Organen – der etwas jüngere Widerspruch titelte im Heft 19 zur gleichen Zeit «Sozialismus am Ende?». Auch ein Thema wie Antisemitismus im Heft 99/100 von Mitte 1993 – zugleich eine der erfolgreichsten Ausgaben mit einer Zweitauflage – war stärker politisch denn kulturpolitisch angelegt.

Das folgende Quasi-Jubiläumsheft 102 vom Dezember 1993 druckte in einem Rückblick verschiedene Artikel aus früheren Nummern ab – nicht ganz zufällig stammten diese mehrheitlich aus den Anfängen und endeten mit Heft 61 aus dem Jahr 1987.

Für die Nummer 114 vom November 1996 / Januar 1997 stellte Rosemarie Heilmann eine Ausgabe mit Originalgedichten zusammen. Sie enthielt eine schon beinahe repräsentative Auswahl Schweizer LyrikerInnen, war eine bemerkenswerte Parforceleistung. Doch dann war Schluss. Das Kulturmagazin stellte sein Erscheinen ein, ohne grosses Tamtam und Gejammer. Die Mischung von demokratischer Kunst und Kulturpolitik hatte sich erschöpft.

 

Im Rückblick auf zwanzig Jahre ist das Kulturmagazin mit einem Korpus von rund 4500 Seiten ein bemerkenswertes Dokument. Es bleibt sein Verdienst, viele kulturelle und kulturpolitische Themen neu aufzugreifen und die Zivilgesellschaft als Streit- und Kampffeld vermessen und bespielt zu haben. Etliches ist zeitgebunden, aber auch darin drückt sich der Zeitgeist prägnant aus. Anderes, manches ist noch nicht abgegolten.

Stefan Howald