Lichtstrahlen und vegetarische Küche bücherräumereien (XXXIV)

Eine Zeitschrift für die linke Opposition und eine Lehrmeister-Bibliothek.

«Lichtstrahlen» – unter diesem jugendstilhaft verheissungsvollen Titel wollte eine politische Wochenzeitschrift ab 1913 in die Höhe, in die Zukunft führen, wobei der Untertitel ein «Bildungsorgan für denkende Arbeiter» ankündigte. Wer da so emphatisch zu bilden versuchte, war Julian Borchardt. Borchardt (1868–1932) arbeitete nach einer kaufmännischen Ausbildung in Bromberg als Bibliothekar, Lehrer und freier Journalist und wurde dann Redaktor sowie Bildungsverantwortlicher bei verschiedenen sozialdemokratischen Zeitungen und Institutionen.

Dabei rückte er allmählich auf den linken Flügel. 1911 ins preussische Abgeordnetenhaus gewählt, wurde er wegen heftiger Interventionen zwei Mal des Saals verwiesen, und da er sich beim zweiten Mal weigerte, den Saal zu verlassen, des Hausfriedensbruchs angeklagt. In der von ihm 1913 in Berlin gegründeten Wochenzeitschrift «Lichtstrahlen» wandte er sich zusehends gegen die Mehrheitssozialdemokratie, insbesondere als diese im August 1914 einen nationalchauvinistischen Kurswechsel vollzog und den Kriegskrediten für das imperiale Deutschland zustimmte. Seinen pädagogischen Antrieb begründete er später gerade auch mit dieser Erfahrung: «Wir sind überzeugt, dass höhere Bildung der sozialistischen Massen jenen blinden Autoritätsglauben ausrotten wird, der den Menschen heutzutage beim Militär anerzogen wird, und den wir deshalb nicht selten leider auch an Stellen finden, wo er nicht hingehört. Der allerdings wird schwinden wie die Spreu vor dem Winde, wenn alle Menschen das nötige Mass Bildung besitzen.»

In den «Lichtstrahlen» publizierten ab Kriegsbeginn zunehmend oppositionelle linke Sozialdemokraten, etwa der Ökonom Artur Crispien oder der Bauernpolitiker und Schriftsteller Edwin Hoernle. Beide hatten zur Redaktion der sozialdemokratischen «Schwäbischen Tagwacht» in Stuttgart gehört und mussten nach kritischen Stellungnahmen zur SPD-Burgfriedenspolitik auf Druck der nationalen Parteileitung ihre Posten räumen. In den «Lichtstrahlen» ebenfalls ein Sprachrohr fanden Karl Radek und Anton Pannekoek, die vor dem Weltkrieg gemeinsam zur Bremer radikalen Linken gezählt hatten.

Abschied von der SPD

Borchardt bot seine Zeitschrift als Forum an, blieb aber mit zahlreichen kürzeren und längeren Beiträgen der unbestrittene Taktgeber. Seine zumeist nicht gezeichneten Texte sind eingängig geschrieben, jederzeit um Argumente bemüht, dabei mit klaren Positionen. Der Wikipedia-Eintrag zu ihm vermeldet, er sei bereits 1914 aus der SPD ausgetreten, was wohl nicht stimmt, da er noch im April 1915 in einer kritischen Stellungnahme in den «Lichtstrahlen» schrieb: «Weit von uns weisen müssen wir deshalb den Vorwurf, wir hätten es auf eine Spaltung der sozialdemokratischen Partei abgesehen. Solche Absichten überlassen wir jenen, die es bereits mit hinreichender Deutlichkeit ausgesprochen haben, dass alle, welche die gegenwärtige Haltung der Partei kritisieren, bei nächster Gelegenheit hinausgeworfen werden sollen. Wir denken gar nicht daran, weder die Partei zu verlassen, noch sie zu spalten. Ganz im Gegenteil: wir wollen drin bleiben und nach Kräften daran arbeiten, ihr den sozialdemokratischen Charakter zu wahren.»

Im Juli 1915 nahm Borchardt an einer von Robert Grimm organisierten Vorbereitungssitzung in Bern und im September 1915 an der Zimmerwalder Konferenz der europäischen Linken teil. Mit Karl Radek und Lenin gehörte er dabei zur radikalen – und minoritären – Zimmerwalder Linken. Erst nach der Rückkehr aus Zimmerwald vollzog er den Bruch mit der SPD; zusammen mit den Bremern und einer Handvoll Mitglieder aus Hamburg und Braunschweig gründete er die Internationalen Sozialisten Deutschlands (ISD).

Ökonomie und Feuilleton

Im bücherraum finden sich drei repräsentative Nummern der «Lichtstrahlen», die uns freundlicherweise bei der Auflösung von «Gretlers Panoptikum» überlassen worden sind. Neben dem politischen Teil enthielt die Zeitschrift, die «jeden Sonntag» erschien, immer auch feuilletonistische Artikel, Erzählungen, Gedichte und Buchbesprechungen.

In grundsätzlichen Beiträgen trat Borchardt für eine differenzierte materialistische Analyse ein, die ökonomische Interessen betonte, ohne den subjektiven Faktor in der Geschichte leugnen zu wollen. So gingen einzelne Artikel der deutschen Entwicklung seit 1792 im Spannungsfeld von Klasseninteressen, Nationalstaat und frühen Globalisierungstendenzen nach. An anderer Stelle analysierte Karl Radek die Rolle Bismarcks, wobei dessen Kompromisse zwischen den Fraktionen der herrschenden Klassen betont wurden. Aufmerksamkeit wurde auch den organisationstheoretischen Entwicklungen der sich herausbildenden Weltwirtschaft geschenkt.

Bezüglich der aktuellen politischen Situation zeigte Borchardt die Widersprüche der Mehrheitssozialdemokratie auf, die alles Vertrauen verspielt habe, da ihre früheren Worte und jetzigen Taten schroff auseinanderklafften. Ebenso scharf rechnete er mit der Hoffnung ab, die SPD werde für ihre Burgfriedenspolitik nach einem allfälligen Kriegsschluss mit Zugeständnissen in sozialen Belangen belohnt.

Unter dem Strich, im Feuilleton, dokumentierte zum Beispiel Edwin Hoernle mit prägnanten Strichen den erschreckenden Chauvinismus und Rassismus vieler deutscher Intellektueller bei Kriegsausbruch. Daneben fanden sich russische Erzählungen ebenso wie Auszüge aus Wilhelm Hauffs «Mitteilungen aus den Memoiren des Satans» (1825): Das ist gehobene Unterhaltungsliteratur, deren Zielpublikum aber in diesem politisch zunehmend radikalisierten Umfeld unklar blieb.

Im April 1916 wurden die «Lichtstrahlen» wegen ihrer antimilitaristischen Haltung von der Zensur verboten. Die Nachfolgezeitschrift «Leuchtturm» fiel ebenfalls bald der Zensur zum Opfer.

Ein unzuverlässiger Intellektueller?

Hans Manfred Bock würdigt in seiner grundlegenden Studie zu «Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923» (1993) die historische Bedeutung der «Lichtstrahlen» als Forum für die sich herausbildende linkskommunistische Strömung, behandelt Borchardt als Person aber ein bisschen schnöde. So habe dieser ab 1917 eine Entwicklung eingeschlagen, die «ihn künftig als Sprecher der linksradikalen Bewegung disqualifizieren sollte» (Bock 77) – was ein eher orthodoxes Verständnis für das Verhältnis von Bewegung und Führung verrät. Tatsächlich hatte Borchardt ein Buch zum deutschen U-Boot-Krieg zum Lesen empfohlen und mit einer Einleitung versehen und war deswegen von seiner Parteisektion der ISD gerügt worden. Er rechtfertigte sich damit, dass er selbstverständlich weiterhin Pazifist sei, aber das Buch wichtig finde, um zu zeigen, dass die sozialdemokratische Vorstellung eines blossen «Verteidigungskriegs» ein Hirngespinst sei. 1918 erschien in seinem Kleinverlag auch Lenins «Staat und Revolution», was den Linkskommunisten wiederum nicht recht passen wollte.

Ab 1917 drängten die zersplitterten linksradikalen Gruppierungen, parallel und in Auseinandersetzung mit dem Spartakus-Bund von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, auf eine organisatorische Konsolidierung. Borchardt zeigte sich schon früh skeptisch gegenüber dem Aufbau einer neuen Partei und vertrat anti-organisatorische, geradezu anti-autoritäre Positionen. Das trennte ihn nunmehr auch von Radek und Pannekoek. Im November 1918 lancierte Borchardt die «Lichtstrahlen» erneut. Die Zeitschrift blieb allerdings nahezu einflusslos und wurde 1921 eingestellt.

Bock referiert – weitgehend zustimmend – die Position der ISD, die Borchardt vorwarfen, er habe «den Kontakt mit der radikalen Arbeiterbewegung verloren» und sich mit seinen weiteren Aktivitäten für einen blossen «Debattierclub» entschieden (Bock 77). Ja, er rechnet generell mit den wankelmütigen Geistesarbeitern ab. Insbesondere die Künstler, die von «anti-bürgerlichen Affekten» getrieben worden seien, hätten sich bald wieder von ihrem Engagement distanziert, aber auch für Intellektuelle wie Borchardt sei ihr linksradikales Engagement nur «eine Episode ihres politischen Lebenslaufes» geblieben (Bock 327).

Die früheren gemeinsamen Mitstreiter Radek und Pannekoek schlugen in der Folge sehr unterschiedliche, zuweilen entgegengesetzte Wege ein. Radek wurde schon im März 1920 Komintern-Funktionär, danach ein führendes Mitglied der KPD, für die er kurzfristig ein Bündnis mit nationalistischen Kreisen suchte. In den folgenden fünfzehn Jahren lavierte er mehrfach zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb der KPD und der Komintern. 1937 wurde er schliesslich als angeblicher Anhänger Trotzkis im zweiten Schauprozess angeklagt und 1939 in einem sowjetischen Arbeitslager ermordet – Stefan Heym hat dieses Leben 1995 romanhaft in aller Widersprüchlichkeit geschildert. Anton Pannekoek seinerseits, der zugleich ein renommierter Astronom war, wurde zu einem führenden Vertreter des Rätekommunismus, in scharfem Gegensatz zu Lenin und dann dem Sowjetkommunismus, zumeist allerdings in politisch nicht sehr wirkungsvollen Splittergruppen tätig.

« Lehrmeister-Bibliothek»

Den im bücherraum vorhandenen Heften der «Lichtstrahlen» liegen jeweils Prospekte der «Buchhandlung des Schweiz. Grütlivereins» an der Oberen Kirchgasse in Zürich bei. Angeboten werden wegen der «Kriegswirren» in einer «Ausnahmeofferte» ein paar Titel zu Schweizer Genossenschaften, und zwar als «Bücher, die in jeder Arbeiterbibliothek vorhanden sein müssen». Dazu ist als «Sonderangebot» eine Broschüre über die Bestattung von August Bebel in Zürich vom August 1913 neben einem dicken Band mit Humoresken von Wilhelm Busch, «für Freunde gesunden Humors», zu haben.

Kulturpolitisch besonders bemerkenswert ist in einer weiteren Ausgabe eine vierseitige Beilage des Leipziger Verlags Hachmeister und Thal zu dessen «Lehrmeister-Bibliothek». Das ist eine um 1900 gestartete «Sammlung praktischer Anleitungen für alle möglichen Bedürfnisse des täglichen Lebens». Rund 300 Titel sind in dieser Anzeige verzeichnet, bis Anfang der 1930er Jahre sollte die Reihe an die tausend Titel umfassen. 1915 kostete jedes Heft 30 Centimes, die Doppelnummer 55 Centimes. Titel in zehn Abteilungen wurden angeboten, von «Gartenbau, Blumenpflege» bis «Geistige Bildung». Als Hilfe zur Selbsthilfe scheint das anschlussfähig an die Genossenschafts- und Arbeiterbewegung gewesen zu sein. Zumeist sind die Bände ganz praktisch auf den Alltag hin angelegt, wobei das tägliche Leben doch weit gespannt wird, vom Beruf übers Wohnen bis zur Freizeit.

Beim Gartenbau etwa werden den Schädlingen des Apfel- bzw. Birnbaums ebenso wie des Steinobstes und des Beerenobstes je eine eigene Doppelnummer gewidmet. Während «Der praktische Champignonzüchter» auf altbekannte Lebensmittel verweist, behandelt das «Tomatenbüchlein» ein Speisegewächs, das sich in Deutschland erst Ende des 19. Jahrhunderts als Nahrungsmittel in weiteren Kreisen verbreitete. Bei Sport und Spiel sind neben Fussball und Schwimmen auch dem Tennis und dem Skilaufen einzelne Bändchen gewidmet.

Themen wie Ansätze sind mehrheitlich landwirtschaftlich und handwerklich geprägt. Zugleich geht es jedoch um die Erschliessung moderner technischer Erkenntnisse, sei es in einem Band übers Mikroskop, über die «Selbstanfertigung eines Elektromotors», ja sogar über die «Wasserversorgung mit Stahlwindturbinen». Parallel dazu werden Einführungen in die Buchführung angeboten, für die Landwirtschaft ebenso wie für die Geflügelzucht oder für «kleine Wirtschaftsbetriebe und für den Privatmann»; gelehrt werden kann aber auch die «rationelle Fütterung der Kleinhaustiere».

Noch stärker Einzug hält die Moderne unter dem Stichwort «geistige Bildung». So gibt es einen Ratgeber sowohl für männliche wie für weibliche Stellensuchende, aber auch über «Moderne Gartenentwürfe» und «Neuzeitliche Mietwohnungseinrichtungen»; das «Praktische Lehrbuch der Hypnose und Suggestion» mag sowohl an geheimnisumwitterte altertümliche wie moderne Techniken der Einflussnahme anschliessen

Sozial richtet sich das eher an die aufstrebenden Arbeiter- und Mittelschicht, mit einzelnen Ausreissern nach oben: Die «Chauffeurschule» ist nicht nur für den Berufs- sondern auch für den «Herrenfahrer» gedacht, und gelernt werden kann zudem die «Erziehung und Dressur des Luxushundes».

Das ist alles von apartem historischem Interesse. Einer dieser Lehrmeister hat freilich bis heute überlebt, oder besser eine Lehrmeisterin. 1912 veröffentlichte der Verlag als Nummer 187 eine Broschüre «Vegetarisches Kochen». Die ist vor ein paar Jahren, textlich unverändert, in einem neuen Verlag wieder aufgelegt worden ist. Die Autorin Irma Lindekam hatte für die «Lehrmeister-Bibliothek» zudem eine Broschüre «Ein Monat Arbeiterküche» verfasst. Die ist nun allerdings nur noch antiquarisch zu beziehen, und zwar in Lettland.


Im bücherraum f sind vorhanden

  • «Lichtstrahlen», Nummern 7/15 vom 4. April 1915, Nr. 8/15 vom 11. April 1915 und Nr. 9/15 vom 18. April 1915.
  • Stefan Heym: «Radek». Roman. München 1995.
  • Hans Manfred Bock: «Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923». Darmstadt 1993.
  • Drei Schriften von Anton Pannekoek, dazu eine Monografie von Cajo Brendel über Pannekoek, holländisch bereits 1970 erschienen, aber erst 2001 ins Deutsche übersetzt.