Um Reportagen und Literatur, um Dichtung und Wahrheit, um Authentizität und Faktentreue ging es im bücherraum f am 5. Oktober.
Der polnische Autor Ryszard Kapuściński (1932–2007) machte einst in den siebziger bis neunziger Jahren mit seinen Reportagen aus der damaligen Dritten Welt Furore. Dann geriet er unter Verdacht: Verschiedene der beschriebenen Details mochten nicht ganz der Realität entsprechen; ja, hatte er womöglich einige der beschriebenen wagemutigen Abenteuer gar nie erlebt? Ruedi Küng, selbst langjähriger Reporter für Radio DRS in Afrika, präsentierte den Fall Kapuściński als Musterprozess zu den fliessenden Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion.
Küng hat die Reportagen von Kapuściński über den Befreiungskrieg in Angola oder über das Ende der Herrschaft von Kaiser Haile Selassie in Äthiopien seinerseits noch als Vorbilder empfunden. Umso verstörender erschien ihm die Kritik daran. Der Fall Claas Relotius mit dessen krass gefälschten Reportagen, die in verschiedenen renommierten Medien erschienen sind, hat die Kritik an der journalistischen Reportage befeuert, ist aber eine Schwundstufe in einer grundsätzlich anderen Kategorie. Dagegen bleibt Kapuściński durchaus aktuell. So haben vor knapp zwei Jahren Raúl de la Fuente und Damian Nenow die Angola-Reportagen verfilmt, und zwar als Zeichentrickfilm, wobei in Another day of life die gezeichneten Bilder zuweilen in Dokumentaraufnahmen münden.
Hier der trailer:
Küng breitete zur Debatte reichhaltiges Material aus, von Kapuściński ebenso wie von seinen KritikerInnen, Verächtern und Anhängern. Etwa zur Eingangsszene aus König der Könige: Hat jener Diener, der am kaiserlichen Hof in Addis Abeba hinter dem inkontinenten königlichen Schosshündchen aufputzt, wirklich existiert, oder veranschaulicht diese, womöglich fiktive, Figur nicht prägnant den Zustand eines dekadenten Hofs und dient also einer Parabel der Macht, wie sie Kapuściński liefern will? Kapuściński hat auf die Vorwürfe selbst mit theoretischen Reflexionen geantwortet, eine Art Poetologie der Reportage entworfen. Gegen die Vertreter eines planen Naturalismus meinte er, zwischen der abgenutzten klassischen Reportage und der Literatur bestehe ein weites leeres Feld, das er ausgenutzt habe, wobei er sich als «Übersetzer von Kulturen» verstand. Was die Frage nach der Distanz offenlässt. Am Beispiel der angolanischen Freiheitskämpferin, die so prominent im Film auftaucht: Wie weit dürfen Engagement für, ja Identifikation mit der gerechten Sache gehen?
Ruedi Küngs Vortrag lässt sich hier nachhören:
In der Diskussion wurde thematisch und historisch weit ausgegriffen. Subjektivität in den Journalismus eingebracht hat schon der New Journalism ab Mitte der sechziger Jahre in den USA, der mit etlicher Verspätung in den deutschsprachigen Raum übergeschwappt ist, oder noch früher der parteiliche Stil des rasenden Reporters Egon Erwin Kisch. Offensichtlich gebe es Moden des Schreibens und des Narrativen; oder grundsätzlicher: Bediene sich nicht jeder Journalismus, so wie die Literatur, verschiedener Formen des Erzählens? Eine Frage übrigens, die sich auch für die Geschichtsschreibung stelle. Dabei geht es nicht nur um Faktentreue, sondern auch um das methodische Ziel: ein Feuerwerk der Einzelbeobachtungen zünden oder durch Verdichtung auf Strukturen zielen. Nötig sei wohl Transparenz über die angewandten Mittel und Absichten, und Selbstreflexion. Doch wie stark wirken dabei die Publikumserwartungen: Kriegen wir nicht jene Erzählungen, die uns gerade schmecken? Zudem, worauf schon Kapuściński hingewiesen hatte, wird das geschriebene Wort durch die neuen Technologien zunehmend an die Wand gespielt. Oder gewinnt es gerade eine neue, veränderte Bedeutung? Zum Schluss, schon beinahe zwischen Tür und Angel, wurde in Frage gestellt, ob Beobachtungen von aussenstehenden BeobachterInnen überhaupt noch aufschlussreich sein können; viel stärker müssten doch die Stimmen aus den betroffenen Ländern selber gehört werden.
Die Diskussion lässt sich hier nachhören: