Dieses kostbare Gut der Zivilcourage

Alice Grünfelder im bücherraum f

Wie entsteht Zivilcourage? Warum engagieren sich die einen, während andere wegschauen? Was kann ein solches Engagement erreichen? Sagt uns die Friedensbewegung heute noch etwas, und was lässt sich aus deren konkreten Aktionen lernen? Solche Fragen stellt Alice Grünfelder in ihrem Buch «Wird unser Mut langen?», das sich mit dem Protest in Deutschland gegen die Nato-Nachrüstung in den 1980er Jahren beschäftigt.

Im bücherraum f stellte sie es im Februar 2020 vor.

Der bücherraum ist reichhaltig bestückt mit Materialien zu Friedensbewegungen im 20. Jahrhundert. Da findet sich eine Schrift von Karl Liebknecht, eine fragile Erstausgabe, «Militarismus und Antimilitarismus», erschienen 1911 im Verlag der Buchhandlung des Schweizerischen Grütlivereins in Zürich. Was die Schweiz betrifft, so sind Materialien zur religiös-sozialistischen Vereinigung gut vertreten, die immer einen starken pazifistischen Flügel hatte. In eine ähnliche Tradition gehören die Schriften zu Charles Naine (1874–1926), dem welschen Sozialdemokraten und Pazifisten. Neben zwei biografischen Abrissen findet sich als Originalausgabe die «Verteidigungsrede des Genossen Karl Naine vor dem Kriegsgericht der II. Division in Freiburg, am 24. September 1904».

Auf der andern Seite ist auch eine offizielle Schrift wie «Soldat und Bürger» von 1916 vorhanden, die als ein «Beitrag zur nationalen Erziehung des Schweizers» Nation und Armee via ein patriarchales Rollenbild zusammenschweissen will. Oder dann Schriften zur eher skurrilen Debatte um eine schweizerische Atombewaffnung, die in den 1950er Jahren geführt wurde und die Walter Matthias Diggelmann in seinem Roman «Das Verhör des Harry Wind» aus dem Jahr 1962 quasi-dokumentarisch seziert hat – das Buch ist im bücherraum f ebenfalls vorhanden. Dagegen steht wiederum eine kürzlich erschienene Broschüre zum unermüdlichen Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer Arthur Villard (1917–1995). Und dann natürlich Berichte zur grossen Demo 1981 in Bern gegen die westliche Nachrüstung. Schliesslich als ein Höhepunkt: die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA). Neben andern Materialien sind die meisten GSoA-Jahrbücher 1987 bis 1992 vorhanden, als Zusammenschnitt von reproduzierten Presseberichten gestalterisch nicht über jeden Zweifel erhaben, aber unerlässliche Dokumentationen zum Thema.

In diesem Klima der Nach- und Aufrüstung in den 1980er Jahren ist auch das Buch von Alice Grünfelder zu den Friedensblockaden in Mutlangen angesiedelt. 2018 hat Grünfelder den Roman «Die Wüstengängerin» (edition 8) vorgelegt, der anlässlich einer eindrücklich evozierten Reise durch China die Unterdrückung der UigurInnen thematisiert. Ihr neues Buch ist dokumentarisch und historisch, behandelt den Widerstand in Mutlangen und Schwäbisch-Gmünd in Baden-Württemberg gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen zwischen 1983 und 1987.

Im bücherraum las sie aus vier Kapiteln mit vier unterschiedlichen Fragestellungen. Ausgangspunkt ihrer historischen Recherche war für sie, die selbst in Schwäbisch-Gmünd aufwuchs, die Frage, warum der US-amerikanische Stützpunkt bei Mutlangen so lange so widerspruchslos hingenommen worden war. Immer wieder hatte es ja Unfälle mit Lastwagen und grossen Zugfahrzeugen gegeben. Doch blieb die US-Armee als Arbeitgeberin wichtig und wurde als fragloser Bestandteil des Alltags akzeptiert. Grünfelder bezieht sich darin selbstkritisch ein. «Auf keinen Fall aber hätte ich mich damals Hand in Hand in einem grossen Kreis auf dem Gmünder Johannisplatz aufgestellt. Wäre ja peinlich gewesen. Man wäre als Spinner angesehen worden. Und womöglich wäre man noch angesprochen, belächelt, beschimpft worden. Geschämt hätte ich mich in Grund und Boden, gebracht hätte es eh nichts. Vielleicht, wenn Freunde in so einer Gruppe gewesen wären, vielleicht hätte ich dann mitgemacht.»

Tatsächlich entstand die Widerstandsbewegung gegen die Aufrüstung des Stützpunktes mit weit reichenden Pershing-II-Raketen, anders als etwa lokale Anti-AKW-Aktionen, von aussen. Sie brachte zuweilen Prominenz wie Heinrich Böll, Petra Kelly und Oskar Lafontaine vor Ort. Die einheimische Bevölkerung reagierte eher abweisend, ja feindselig. Natürlich gab es Ausnahmen. Zwei, drei lokale AktivistInnen kommen zu Wort. Sie stehen in einer Tradition des Nonkonformismus, zum Teil durch eine radikale Religiosität befeuert. Für den Widerstand aber braucht es einen bewussten Entscheid. Und die Bereitschaft, die Konsequenzen zu tragen, wie Grünfelder an einem Lehrer erläutert «Schließlich wuchs man an zivilem Ungehorsam und Widerstand. Er habe bis zu seinem Engagement in bürgerlicher Angst vor juristischen Sanktionen gelebt. ‹Man muss sich der eigenen Angst stellen und sie aushalten›, sagt einer der damals Beteiligten. Zivilcourage eben.»

Dabei waren die Formen des Widerstands vielfältig. Er blieb zwar jederzeit gewaltlos, doch die Blockaden vor den riesigen Zugfahrzeugen für die Raketen waren nicht ungefährlich und wurden nicht von allen mitgetragen. Intern und nach aussen liessen sich drei Gruppierungen unterscheiden: Die einen setzten auf gewaltlose Aktionen im Sinne von Gandhi, durchaus in passiver Konfrontation mit der Polizei. Eine zweite Gruppe favorisierte Aufklärung. Und schliesslich agierte die sogenannte Pressehütte, aus einer Gruppe entstanden, die Öffentlichkeitsarbeit betrieb. In einer Scheune untergebracht, garantierte sie bald die Kontinuität der Bewegung. Hier wurden aber auch originellere Formen direkter Aktionen entwickelt. In der bisherigen Geschichtsbeschreibung zu Mutlangen stehen die Blockaden im Vordergrund, wobei, wie Grünfelder bedauernd festhält, die Spassguerilla etwas aus dem Gedächtnis geriet.

In ihrem Buch schildert sie das Engagement, aber auch die Probleme der Bewegung. Das schliesst eine kritische Selbstbefragung ein, das Schwanken zwischen Optimismus und Pessimismus. Untereinander war man sich nicht immer einig, und der basisdemokratische Anspruch brachte etliche Reibungsverluste und Umwege mit sich.

Als wichtigstes Prinzip erwies sich die Form der Bezugsgruppe. Wer mitmachten wollte, musste sich einer Gruppe anschliessen. Diese Gruppen konnten sich unterschiedlich akzentuieren und unterschiedliche thematische Schwerpunkte setzen, doch wurde in ihnen sowohl gewaltfreies Verhalten eingeübt, wie auch die Demokratie innerhalb einer Gruppe und die Konsensfähigkeit ausprobiert.

In der Diskussion im bücherraum f wurde anlässlich des Prinzips der Bezugsgruppe eine Verbindung zur aktuellen Klimabewegung hergestellt, die sich ebenfalls um eine nicht-hierarchische, nicht zentralisierte Entscheidungsfindung bemüht. Und es wurde die Frage aufgeworfen, was der jahrelange Widerstand denn gebracht habe. Grünfelder war realistisch: Als die Bewegung um 1987 erlahmte, blieben die Raketen weiterhin stationiert. Dann, in einem geänderten weltpolitischen Klima, wurden sie 1990 schliesslich abgezogen. Zu diesem anderen Klima beigetragen hat im Westen allerdings auch die Friedensbewegung.

Grünfelder lässt eine der AktivistInnen zu Wort kommen: «Ja, man muss sich überwinden, sich zu widersetzen. Manchmal auch auf der Straße. Ich habe immer gesagt, wenn ich etwas als richtig erkannt habe, muss ich es tun, auch wenn ich nicht weiß, wie sich alles letztlich entwickelt.» Und sie kommentiert: «Es ist wie der Kampf des Don Quijote, der auch andere auf Trab hält. Couragierte Menschen werden zu einer verlässlichen Größe, zum Sand im Getriebe. Je mehr Menschen mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen.»

sh

Alice Grünfelder: Wird unser Mut langen? Ziviler Ungehorsam für den Frieden. Edition Weite Felder. Zürich 2019. Broschur, 140 Seiten, 12 Euro. (www.literaturfelder.com/wird-unser-mut-langen/)