Auch die dominierende Klasse muss sich organisieren

 Andreas Rieger im bücherraum f

Plötzlich tauchte der Klassenbegriff in der Öffentlichkeit wieder auf, und sogar die Arbeiterklasse war auferstanden. Seine Schock-Wahl verdankte Donald Trump 2016 unter anderem den Stimmen im rust belt, den de-industrialisierten Gebieten in Pennsylvania, Wisconsin und Michigan, wo viele enttäuschte ArbeiterInnen (oder doch vorwiegend Arbeiter) für ihn gestimmt hatten. Auch bei der Brexit-Annahme vor dreieinhalb Jahren und beim jüngsten Wahlerfolg der Konservativen in England waren viele ArbeiterInnen in den ehemaligen Industriestädten in Mittel- und Nordengland zu den Tories übergelaufen.

Manche KommentatorInnen griffen entsprechend zum Schlagwort vom «Verrat an der Arbeiterklasse», das den Demokraten und der Labour Party mehr oder weniger höhnisch um die Ohren geschlagen werden konnte. Selbst wohlwollende Kommentare verwendeten dabei einen essenzialistischen Klassenbegriff. Denn was da so fürsorglich wiederentdeckt worden ist, ist ja die weisse Kernarbeiterschaft in den ehemaligen Schwerindustrien. Dagegen müsste eine zeitgemässe Klassenanalyse berücksichtigen, dass die ehemalige Arbeiterklasse sich längst ausdifferenziert oder ausgeweitet hat, auch Beschäftigte im Tertiärbereiche, Nicht-Weisse, Frauen, Teilzeitbeschäftigte umfasst.

Tatsächlich ist die Klassenanalyse, trotz der kurzfristigen politologischen Renaissance der Arbeiterklasse, seit Jahrzehnten verpönt worden. Daran erinnerte der Soziologe und Gewerkschafter Andreas Rieger kürzlich bei einem Vortrag im bücherraum f.

Rieger skizzierte zu Beginn verschiedene Ansätze, wie der im Geruch des Marxismus stehende Klassenbegriff zuerst durch den noch halbwegs kritischen Begriff Lohnabhängige ersetzt wurde, sich dann die These von der Mittelschichts- oder Mittelstandsgesellschaft durchsetzte. Eine «Mittelstandsillusion» ist das für ihn sowohl was die gesellschaftliche Realität als auch was die subjektiv darin gesetzten Hoffnungen betrifft. Durch die etwa von Thomas Piketty angestossene Diskussion über die zunehmende Ungleichheit hat zumindest die «soziale Frage» einen moderaten Aufschwung genommen.

Andreas Rieger hat in den letzten Jahren mehrfach zu einem differenzierten Klassenbegriff gearbeitet. So im Buch «Verkannte Arbeit» über Dienstleistungsangestellte in der Schweiz (rotpunktverlag 2012) oder im Sammelband «MarxnoMarx» (denknetz, edition 8, 2018). Und als Gewerkschaftssekretär war er natürlich ganz praktisch mit der Klassenfrage konfrontiert.

Im bücherraum f ging es ihm um den anderen Pol, um die «dominierende Klasse». Was eine begriffliche Entscheidung bedeutet. Rieger spricht statt vom historisch belasteten Begriff der herrschenden lieber von der dominierenden Klasse. Das mag als rhetorische Mässigung erscheinen, lässt sich aber auch an die theoretischen Bemühungen von Antonio Gramsci und dessen Begriff der Hegemonie zurückbinden; mit diesem rücken die vielfältigen Mittel in den Vordergrund, durch die eine Klasse eine Gesellschaft zu dominieren versteht – in der massgebenden deutschen Gramsci-Ausgabe wird mit einem leicht anderen Akzent von der «führenden Klasse» gesprochen.

Mit welchen Kriterien, so fragte Rieger, soll man die dominierende Klasse fassen? Im Vordergrund steht oberflächlich der Besitz, das Vermögen. Jeweils anschaulich gemacht wird das in den Ranglisten der Wirtschaftspresse, in der Schweiz beleuchtet jeweils die «Bilanz» die 300 Reichsten. Dieser Ansatz äussert sich auch im linken Schlagwort von der Spaltung der Gesellschaft in die 1 Prozent da oben gegen die 99 Prozent hier unten – wichtig zur Mobilisierung, aber ebenfalls vereinfachend.

Denn das reine Vermögen, so betonte Rieger, reicht nicht zur Dominanz. Geld muss als Kapital eingesetzt werden, erst so koppelt sich Besitz mit Verfügungsmacht.

Bei der Klassenanalyse geht es auch nicht ihn erster Linie um die Einzelnen (obwohl die nicht zu vernachlässigen sind), sondern man muss diese als Charaktermasken (Marx), das heisst in ihren gesellschaftlichen Funktionen betrachten. Der Begriff Elite hat dagegen eine unrühmliche Schlagseite; indem man sich auf einzelne Personen und deren Verknüpfungen konzentriert, entsteht eine Tendenz zu Verschwörungstheorien. Oder der Begriff kann polemisch gewendet werden: Mittlerweile spricht die NZZ, schon immer gut im Klassenkampf von oben, von so etwas wie einer links-grünen Bourgeoisie.

Als Hauptpunkt seiner Ausführungen unterstrich Rieger, dass sich die dominierende Klasse der Kpaitalbesitzer organisieren muss. Macht ist kein Selbstläufer. Deshalb schliessen sich UnternehmerInnen und bürgerliche ProtagonistInnen in vielfältigen Verbänden, Interessengruppen und Thinktanks zusammen, um die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu organisieren.

In der Schweiz lässt sich, wie Rieger erläuterte, von einem «liberalen Korporatismus» sprechen. Gegenüber einem schwachen Bundesstaat sind die nationalen Verbände relativ stark, und es gibt ein gut ausgebildetes System parastaatlicher Institutionen. Die Gewerkschaften sind durch die Sozialpartnerschaft mehr oder weniger eingebunden, das Bündnis des Bürgertums mit den Bauern zeigt sich im wirtschaftspolitischen Protektionismus im Binnenmarkt, der mit Freihandel nach aussen einhergeht.

In den letzten zwei Jahrzehnten sind allerdings die Widersprüche zwischen den einzelnen Kapitalfraktionen gewachsen. Exportorientierte Industrie, Finanzbranche und nationale Kapitale verfolgen nicht nur unterschiedliche wirtschaftspolitische Strategien, sondern es hat sich ein eigentliches «Schisma» im Neoliberalismus ergeben. Rieger erläuterte das anschaulich am Beispiel der tief bürgerlichen Hayek-Gesellschaft Deutschland, in der Machtkämpfe zu persönlichen Entzweiungen geführt hätten und eine ehemalige bête noir der Linken wie Gerhard Schwarz, langjähriger Wirtschaftschef der NZZ, sich plötzlich auf der Seite der in die Minderheit versetzten Gemässigten wiederfinde, gegen die Stahlhelmfraktion, die gerade auch von Ideologen aus der Schweiz wie Roger Köppel und Konrad Hummler gespiesen wird.

In der Schweiz sind die Mehrheitsverhältnisse noch umgekehrt. Hier dominiert gegenüber dem nationalkonservativen Neoliberalismus der SVP-Vordenker weiterhin der global orientierte Neoliberalismus, der sich, durchaus im Eigeninteresse, in Fragen der Migration und der EU weniger rabiat gibt.

Dabei sind die Unternehmerorganisationen nach einer Schwächephase in den letzten Jahren wieder stärker geworden. Die etwa von André Mach behauptete Erosion des Schweizer Korporatismus durch Globalisierung und verschärfte Konkurrenz sowie Abschwächung der informellen Netze ist laut Rieger zumindest gestoppt worden. Die Arbeitergeberorganisationen repräsentieren weiterhin Unternehmen mit 3 Millionen Beschäftigten, rund 60 Prozent aller Arbeitskräfte in der Schweiz, mit zusätzlicher informeller Vernetzung im lokalen Rahmen (in Klammern – das irreführende Begriffspaar Arbeitgeber/Arbeitnehmer kann immer noch nicht vollständig ersetzt werden). Auch die Abdeckung durch Gesamtarbeitsverträge bleibt mit 52 Prozent international gesehen relativ hoch. Teilweise hat sich das Gewicht der Unternehmerorganisationen sogar verstärkt, etwa im Gesundheitswesen, wo sich jetzt auch private Firmen im neuen Verband curaviva zusammengeschlossen haben, der Betriebe mit 130´000 Beschäftigten vertritt.

Seit etwa zwanzig Jahren hat sich allerdings die personelle Zusammensetzung in den wirtschaftspolitischen Interessenverbänden verändert; parallel zur Gesamtwirtschaft mit der Tertialisierung und der zunehmenden Bedeutung des Finanzsektors hat das Gewicht der entsprechenden VertreterInnen zugenommen. Dabei ist der Angriff der SVP auf die Kommandohöhen der Wirtschaft in letzter Zeit ins Stocken geraten, ja sogar ein wenig zurückgedrängt worden. Jedenfalls ist es, wie Rieger aus eigener gewerkschaftlicher Erfahrung berichten konnte, seit einem Jahr wieder möglich, mit Economiesuisse zu sprechen und Kompromisse zu erzielen, etwa bei der zweiten Säule der Altersversorgung – wo allerdings die FDP eben gerade ihrem kompromissbereiteren Wirtschaftsverband in den Rücken gefallen ist.

So weit, so schweizerisch. Wie sieht es mit der globalen Verflechtung aus?, wurde aus dem Publikum gefragt. Mittlerweile stammt ja ein Drittel der führenden Manager in den Schweizer Grossbetrieben aus dem Ausland. Auch das Kapital hat sich weiter globalisiert. Und die Finanzialisierung hat neue Formen und Möglichkeiten für Kapitalbesitz und Verfügungsmacht geschaffen. In die sind selbst Industrieunternehmen eingestiegen, da sie sich selbst finanzieren und auf Einkaufstour gehen. Nestlé ist, wie Rieger eingängig formulierte, mittlerweile eine Bank mit einer Produktionsabteilung.

Ob sich die soziale Durchlässigkeit vergrössert habe, liesse sich mit einem Jein beantworten. Weiterhin reproduzieren sich Kapital und Macht vorwiegend durch ererbten Reichtum und entsprechende Bildungs- und Vernetzungschancen sowie Heiraten. Allerdings haben sich in neuen Branchen wie dem IT-Sektor, aber auch im Finanzbereich die Chancen für Quereinsteiger erhöht. Was wiederum die Frage nach der Rolle der Manager aufwirft. Schon 1941 hat der Soziologe James Burnham in einem einflussreichen Buch «Die Herrschaft der Manager» ausgerufen. Das war allzu technokratisch gedacht; aber mittlerweile verfügen nicht nur Industrie- sondern etwa auch Fonds-Manager von Hedge Funds über erweiterte Verfügungsgewalt. Manager müssen deshalb wohl unter einen erweiterten Begriff der dominierenden Klasse subsumiert werden. Hinzu kommen die Pensionskassen als schwarzes Loch, von denen Macht ausgeübt wird, die noch zu wenig analysiert ist.

Silicon Valley kann sich gesellschaftspolitisch fortschrittlich geben und sich gelegentlich sogar mit Donald Trump anlegen. Wenn es aber um Fragen der Besteuerung oder der Einschränkung der Geschäftstätigkeit geht, findet man sich wieder zusammen. Die Widersprüche zwischen den verschiedenen Kapitalfraktionen und ihren politischen Wortführern mögen sich kurzfristig verstärken, doch zeigen sich daneben und darüber hinaus neue Arrondierungen zur Herrschaftssicherung des Kapitalprinzips. Und während dieser Klassenkampf von oben immer noch erfolgreich geführt wird, bleiben wir unten geschwächt, ja zersplittert.

sh

Weitere Informationen hat Andreas Rieger in diesem Dokument zusammengestellt:

Dominierende Klasse 1_2020-2