Bücherräumereien (XVI)

Über Zürich und den Wilden Westen, ab dem 18. Jahrhundert. Fundstücke aus dem Familienarchiv der Zürcher Familie Wyss. 

Familiengeschichte öffnet zuweilen die Welt. Oder zuerst einmal Zürich. Die Familie Wyss gehört zu den bekannteren und verzweigteren Geschlechtern im Kanton. Der jetzige Doyen, Pit Wyss, verwaltet ein grosses Familienarchiv. Als Architekt, der oft für den Heimat- und Denkmalschutz gearbeitet hat, liegt ihm Geschichte am Herzen. Seit 1972 veröffentlicht er als Privatdrucke reich illustrierte Broschüren mit vielfältigen Materialien, zuerst unregelmässig, seit 1987 alljährlich als Weihnachtsgabe. Mittlerweile sind es 36 Stück. Sie beginnen mit Hans Rudolf Wyss (1731 – 1798) und reichen bis in die Gegenwart, etwa wenn er Künstlerfreunde vorstellt, die ihm teilweise bei seiner Restaurationsarbeit geholfen haben.

Besonders reizvoll sind verschiedene Vignetten aus dem 19. Jahrhundert. Zwei Figuren ragen hervor. Da ist Jakob Otto Wyss (1846–1927), der nach etlicher Tätigkeit als Mechaniker im In- und Ausland 1873 in die USA emigrierte und zahlreiche Briefe hinterlassen hat. In seinen Broschüren hat Pit Wyss gelegentlich einiges aus diesem Leben veröffentlicht, und daraus ist ein dickes Buch mit «Rauchzeichen aus dem Wilden Westen» geworden, erschienen in der volkskundlichen Reihe im Limmat Verlag.

Von Jakob Ottos Vater Johannes Wyss (1813–1898) liegt ein umfangreiches autobiografisches Manuskript im Nachlass, aus dem ebenfalls verschiedentlich Teile zugänglich gemacht worden sind, etwa über dessen Einsatz als Militärarzt im Sonderbundskrieg, über die Studentenzeit in Heidelberg oder über die Hochzeitsreise nach München. Sozialgeschichtlich besonders interessant sind allerdings die Berichte über seine Tätigkeit als Landarzt in Nummer 30 der Privatdrucke.

Johannes Wyss beginnt das Medizinstudium 1830, kurz bevor die Universität Zürich gegründet wird: zuerst am medicinisch-chirurgischen Institut in Zürich, mit vier Kollegen, dann in Heidelberg und Wien. 1834 übernimmt er nach dem unerwarteten Tod seines Vaters dessen Praxis im Heimatdorf Dietikon. Das ist ein ständiger Kampf um PatientInnen und Entschädigungen, weshalb er etwa eine Teilzeitstelle als Einnehmer der örtlichen Ersparniskasse annehmen muss. Dazu kommt eine schwierige Erbteilung des väterlichen Hofs mit dem Bruder und die Versorgung der verwitweten Mutter. Bei Kollegen, bei Pfarrern und andern Notabeln zieht er Erkundigungen ein, wo eine erfolgversprechende Praxis anzusiedeln wäre. 1841 zieht die Familie nach Affoltern, ab 1846 ist man in Otelfingen ansässig. Geld bleibt ein ständiges Thema. Kann die Nachttaxe verrechnet werden, wenn Johannes spätabends Hausbesuche macht? Kann er Arme abweisen, die eigentlich vom Armenarzt betreut werden müssten, doch die er in Notfällen unentgeltlich behandelt? Übernehmen die arbeitgebenden «Seidenherren» die Kosten bei Unfällen von SeidenweberInnen, die selber kaum über Geld verfügen? Da ist es schon beinahe eine Erleichterung, wenn die Verletzung eines Knechts Selbstverschulden entspringt, weil damit die Verantwortlichkeit klar ist.

Unter gesundheitspolitischen Gesichtspunkten bewegt Johannes Wyss besonders das Thema der Impfung. Mit Überzeugung benützt er die erst kürzlich eingeführten Impftechniken und dokumentiert deren segensreichen Einfluss, auch die allmähliche Durchsetzung, bei gelegentlichen Rückschritten, durch staatlichen Zwang. Ebenso diskutiert er Fortschritte in der Gynäkologie, die er einst in Wien studiert hatte. Verkehrstechnisch anschaulich werden die erstaunlich zahlreichen Auslandsreisen in diesem bildungsbürgerlichen Milieu beschrieben: Während der Studienzeit geht es einmal auf dem Holzfloss von München nach Wien, in neun Tagen.

Zudem kommen beiläufig die Geschlechterverhältnisse in den Blick. In der patriachalen Gesellschaft werden ansatzweise Fortschritte sichtbar. Eine Scheidung auf Zeit kann, obwohl grundsätzlich von den Bedürfnissen der Ehemännern her gedacht, auch Frauen eine Chance bieten. Johannes Wyss beschreibt zudem das Aufkommen von Mädchenschulen aus nächster Nähe, da seine Mutter an zweien beteiligt ist.

In der Wyss’schen Dokumentationsreihe besonders interessant ist auch ein Heft über den Pfarrer Hans Bader (1875–1935). Der lud 1906 verschiedene kritische Pfarrer wie Hermann Kutter und Leonhard Ragaz zu einer «pädagogisch-sozialen Konferenz» nach Degersheim ein, bei der die religiös-soziale Bewegung in der Schweiz aus der Taufe gehoben wurde. Ab 1911 in der Kirchgemeinde Aussersihl, begründete er in Zürich die sozial engagierte Theologische Arbeitsgemeinschaft, gelegentlich auch als Bader-Chränzli apostrophiert. Bader, der jederzeit eine engagierte, diesseitsgerichtete Religion vertrat, versuchte in den Auseinandersetzungen zwischen Karl Barth, Leonhard Ragaz und Emil Brunner in den zwanziger und dreissiger Jahren eine vermittelnde Rolle zu spielen; seine Person wird im 2009 erschienenen Standardwerk zur religiös-sozialen Bewegung in der Schweiz, «Für die Freiheit des Wortes» (das sich natürlich auch im bücherraum f befindet) etwas unterbelichtet.

Besonders nachdrücklich setzte sich Bader für die Gemeindearbeit ein. Bereits 1915 gründete er die Jugend-Genossenschaft Industriequartier und den Mädchen-Bund Industriequartier; 1920 wurde er Präsident der Volkshausgenossenschaft Industrie, und dank seiner unermüdlichen Anstrengungen konnte 1931 das heutige Limmathaus eröffnet werden, ganz im Stil des neuen Bauens errichtet. Wenige Jahre später starb Hans Bader, erst 60 Jahre alt.

Die Broschüre von Pit Wyss dokumentiert einige öffentliche und private Aspekte seines Grossvaters mütterlicherseits, wobei sich im Nachlass noch weitaus mehr Material zu dieser eindrücklichen Persönlichkeit findet.

sh


– Jakob Otto Wyss: «Postmaster in Klau. Rauchzeichen aus dem Wilden Westen 1846–1927». Herausgegeben von Pit Wyss in Zusammenarbeit mit Paul Hugger. Limmat Verlag, Zürich 2001.

Von den Heften sind im bücherraum f folgende vorhanden:

– Das Gefecht bei Lunnern oder meine militärischen Erinnerungen von Johannes Wyss, 1813–1898
– Die Reise nach Heidelberg oder meine Studentenzeit-Einnerung von Johannes Wyss, 1813–1898
– Vom Teilen oder aus dem Leben von Hans Rudolf Wyss 1731–1798
– Die Wanderung nach Regensdorf oder Erinnerungen aus meiner Sekundarschulzeit von Johannes Oskar Wyss 1840–1918
– Das Vereinli-Essen oder aus dem Leben von Ida Diener-Hottinger 1848–1904
– Die Glasplatte oder aus dem Leben von Hans Oskar Wyss-Diener 1891–1950
– Vom Schmiergeld oder die Hochzeitsreise nach München 1839 von Johannes Wyss
– Im Steinhof oder Erinnerungen aus meinem Leben von Johannes Oscar Wyss 1840–1918
– Meine lieben Eltern oder Wer hat von unsern Lieben uns aus der Ferne geschrieben? Briefe aus fünf Generationen
– Der Amateurfotograf oder der Umgang von Hans O. Wyss mit der Camera obscura
– Stein und Gips oder aus dem Leben von Jakob Diener, Baumeister 1820–1882
– Der Landarzt oder aus dem Leben von Johannes Wyss 1813–1898
– Religiös-soziale Menschlichkeit oder aus dem Leben von Hans Bader, Pfarrer, 1875–1935
– Kennenlernen, Hochzeitsfeiern, Hochzeitsreisen. Fünf kleine Hochzeitsgeschichten
– Künstler-Freunde. Fünf kleine Porträts