Wie man so geht

Am Anfang waren die Füsse. Und die Kunst. Also die Füsse in der Kunst. Von den wohlgeformten, fein gesalbten bei den alten Meistern bis zu den unförmigen Klumpen von Giacometti.

Darin steckt natürlich mehr: Wie wir in der Welt stehen und wie wir uns darin bewegen. Verglichen mit dem geschmeidigen Gang der Tiere tappen wir ziemlich unbeholfen herum. So schilderte Isolde Schaad einen Antrieb für ihr jüngstes Buch «Giacometti hinkt», das sie kürzlich im bücherraum f vorstellte. Die Erzählungen des Bands nehmen das Motiv des Welt-Ergehens auf, umspielen es in fünf Wegstrecken und drei Zwischenhalten, anhand unterschiedlicher Leben und Milieus.

Nicht ganz zufällig, dass ein Erzählband von Isolde Schaad so  komponiert daherkommt. Ihr Werk ist jederzeit reflektiert. Im Gespräch wies sie zwar zu Recht darauf hin, dass ihr Interesse an erzählten Geschichten seit etlicher Zeit zugenommen habe und ihre Texte handlungsorientierter geworden seien. Weiterhin bleiben sie allerdings essayistisch grundiert. Darin besteht ihr ganz eigener Ton. Hier geschieht nichts einfach so. Vielmehr werden die Geschehnisse durchleuchtet auf ihren möglichen Sinn, und ebenso wird die Sprache abgeklopft, was sie weiterhin enthält, in Sprachwitz und Doppeldeutigkeiten.

Mir ihren frühen Essaybänden hat Isolde Schaad regelmässig die neusten Sitten und Moden aufgespiesst, eine Ethnologie des Alltags betrieben. Das zeigte sich schon in den sprechenden Buchtiteln: «Know-how am Klimandscharo. Verkehrsformen und Stammesverhalten von Schweizern», «Zürcher Constipation. Texte aus der extremen Mitte des Wohlstandes» (1986), «Küsschentschüss. Sprachbilder und Geschichten zur öffentlichen Psychohygiene» (1989), «Body & Sofa. Liebesgeschichten aus der Kaufkraftklasse» (1994). Mit dem ersten Roman «Keiner wars» (2001) wurde das Spektrum weiter aufgespannt, da er eine Bilanz der 68er unternahm. «Robinson und Julia» (2010) ging noch weiter, spürte wechselnden Geschlechterrollen durch die Jahrhunderte und die Literatur hindurch auf.

Jetzt also «Giacometti hinkt», ein neuer Erzählband. Bei ihrer Lesung stellte Isolde Schaad Passagen aus drei Erzählungen vor, auch drei unterschiedliche Erzählformen. Einer Nationalrätin der Grünen werden Militärschuhe ihres deutschen Partners zu Objekten des Anstosses. In der Irritation bündelt sich manches, Lebensgeschichtliches, Politisches, ebenso wie die etwas schal gewordene Beziehung. Ihr linksalternatives Engagement hat sich zu hochfliegenden Plänen verstiegen, die allmählich auf den Boden geholt werden, milde ironisch. Denn die Schuhe loszuwerden ist gar nicht so einfach; beim Versuch, damit einen eritreischen Jungen als Objekt für die persönliche sozialpolitische Wohltätigkeit zu gewinnen, stösst sie an die eigenen Vorurteile.

In der titelgebenden Erzählung geht es um die bildende Kunst, die Schaad immer beschäftigt hat, und zwar am Beispiel von Alberto Giacometti, dieser klassischen Referenz der Moderne. Diese fraglose Verehrung! Andererseits: diese Füsse! Anhand eines Studenten, der einen neuen Blick auf das Werk sucht, entwickelt sich eine Satire auf den Kunstwissenschaftsbetrieb. Und angesichts des Marktwerts von Giacometti kann schon beinahe zwangsläufig ein kriminalistischer Plot damit verknüpft werden. Wobei durchaus ernsthaft die Frage nach der aktuellen Bedeutung von Kunst gestellt ist: Geht es ihr ums Leiden oder um den Erfolg? Kann sich die gefährdete Authentizität behaupten, oder hat Kunst nur noch jene Funktionalität, die ihr die Gesellschaft jeweils zuschreibt? Ja, auch das Hinken von Giacometti steht in diesem Kontext der Suche nach dem authentischen Leiden.

In einer dritten Erzählung wird eine Rechtsanwältin von der Vergangenheit eingeholt, in Gestalt einer ehemaligen politischen Weggefährtin. Die trifft sie im Pflegeheim, wo sie ihre Tante besucht. Da die jüngere gegen ihren Willen eingeliefert scheint, erwägt die Anwältin sogleich Befreiungspläne. Als Mittel dazu und als Ablenkung erwählt sie sich einen Rollator. Den entwickelt sie sich als unentbehrliches Mitbringsel, in einer kleinen Groteske: Was kann man mit einem Rollator alles machen, so dass der vom Gefährt geradezu zum Gefährten wird! Ja, bekräftigte eine Zuhörerin, das sei eine schöne Ermächtigung für ältere Frauen, und dem Einwand im bücherraum, erkauft werde diese Ermächtigung durch eine grundlegende Kränkung über die eigene Gebrechlichkeit, wurde entgegengehalten, dass sich in solchen unterschiedlichen Reaktionen gerade auch geschlechtsspezifische Erfahrungen und Werte äusserten.

Identifizierbar sind diese Geschichten, ihre Orte und ihre Menschen – auch auf Oerlikon wird von Schwamendingen aus ein Blick geworfen. Und sie zielen doch darüber hinaus, in soziale Milieus und gesellschaftliche Lebensformen. Wie man geht, so lebt man.

sh

Isolde Schaad: «Giacometti hinkt». Fünf Wegstrecken, drei Zwischenhalte. Erzählungen. Limmat Verlag. Zürich 2019, 280 Seiten.