Ultramarin und Dantons Tod Über Georg Büchner und seine Geschwister

Ja, Ultramarin. Wilhelm, der schulische Versager, hatte es mit einem Verfahren, Ultramarin billig herzustellen, zum Millionär gebracht. Und warum war diese Erfindung so erfolgreich? Weil, weiss der Büchner-Spezialist Peter Brunner, mit dem Verschwinden der Waschwiesen im 19. Jahrhundert die Wäsche zuweilen einen Gelbstich annahm, und da Gelb und Ultramarinblau im Farbkreis weiss ergeben, machte eine Spur Ultramarin im Waschpulver die Wäsche wieder blütenweiss.

Mit solchen sozialgeschichtlichen Details wartete Peter Brunner, langjähriger Leiter des Büchner-Museums in Goddelau/Hessen, Mitte Oktober bei einem Vortrag im bücherraum f über die Familie Büchner auf.

Die Familie Büchner? Nun, Georg Büchner (1813-1837) ist bekannt als ein leuchtender Komet der deutschen Literatur. Aber auch vier seiner Geschwister waren bedeutende Persönlichkeiten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Peter Brunner hat bereits 2008 zusammen mit Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz das Buch «Die Büchners oder der Wunsch, die Welt zu verändern» veröffentlicht. Seither hat er in verschiedenen Publikationen und Vorträgen seine Recherchen und neuen Erkenntnisse päsentiert.

In einem fulminanten Auftritt in Zürich machte er diese äusserst begabte Familie gegenwärtig. Über die älteste Schwester Mathilde Büchner (1815-1888) ist am wenigsten bekannt, kein einziges Bild existiert von ihr. Aufzeichnungen aus dem Familienkreis bezeichnen sie einmal als «aufopfernd», ein andermal als «träge». Sie führte, zeitgenössisch nicht untypisch, ein eher unauffälliges Hausfrauenleben im elterlichen Haushalt, später auch im Haushalt ihrer ungemein bekannteren Schwester Luise. Eine spektakuläre Tat ist von ihr überliefert, als sie ihrem Bruder Alexander womöglich einen langjährigen Gefängnisaufenthalt ersparte. Als der in seiner revolutionären Jugend von der Polizei angehalten wurde und einen Dolch auf sich trug, versteckte Mathilde diesen geistesgegenwärtig in ihren Kleidern.

Da war Wilhelm Büchner (1816-1892) prominenter in der Öffentlichkeit präsent. Zwar wurde er in einer späteren, durchaus liebevollen Erinnerung seines Bruders Alexander als «der dumme Bub» bezeichnet, der kein Studium absolvierte; doch durch seine Begabung als Apotheker entdeckte er eben jene verbesserte Ultramarin-Herstellung, die er auch kommerziell auszuwerten vermochte. Ein von ihm gebauter Fabrikkomplex in Pfungstadt machte ihn zum grössten Arbeitgeber in dem stark anwachsenden Dorf. In späteren Jahren war er sozialreformerisch unterwegs, führte im Betrieb unter anderm eine Betriebskrankenkasse ein und beteiligte die Arbeiter sogar am Geschäftsgewinn. Auch als liberaler Reichstagsabgeordneter unterstützte er eine fortschrittliche Sozialgesetzgebung.

Die Schwester Luise Büchner (1821-1877) war eine sozialreformerische Pädagogin und Frauenrechtlerin. Mit ihrem Buch «Die Frauen und ihr Beruf» von 1855 forderte sie eine verbesserte Ausbildung für Mädchen und Frauen in Schule und Beruf. Ihr Erbe wird sorgfältig gepflegt – Peter Brunner gehört zu den MitgründerInnen der Luise-Büchner-Gesellschaft in Darmstadt, die einst, 2019, ihre GV im bücherraum f abgehalten hatte, eingerahmt von einem Zürcher Stadtrundgang, da Luise Büchner 1875 die erste Schweizer Ärztin Marie Heim-Vögtlin und Schweizer Pädagoginnen an der Hottingerstrasse 25 besucht und über den beruflichen und intellektuellen Austausch berichtet hatte, und einem Vortrag von Melinda Nadj Abonji über Rosa Luxemburg.

Noch erfolgreicher war einst Ludwig Büchner (1824-1899). Als Arzt tätig, schrieb er im gleichen Jahr 1855 den philosophisch-politischen Bestseller «Kraft und Stoff», der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beinahe in jedem bildungsbürgerlichen Haushalt stand. Darin propagierte er eine naturwissenschaftlich-materialistische Weltanschauung, in der Kraft und Stoff die bewegenden Triebkräfte waren, wodurch, durchaus radikal, die Religion ins Reich der Fabeln verbannt wurde. Zugleich bot der republikanische Intellektuelle durch seine unverbrüchliche Hoffnung in neue wissenschaftliche Erkenntnisse wie die Evolutionstheorie und seinen optimistischen Fortschrittsglaube in den bleiernen Zeiten nach dem versandeten Aufbruch von 1848 dem desillusionierten liberalen Bürgertum eine neue Perspektive, weshalb verschiedene politische Strömungen, auch etwa die junge Sozialdemokratie, ihn und seine Thesen zu vereinnahmen suchten.

Dann war da schliesslich noch Alexander Büchner (1827-1904), der, nicht ganz verbürgt, 14 Sprachen beherrschte, vielfältig zu einer vergleichenden Sprachwissenschaft publizierte und mit 72 Jahren eine 24-Jährige heiratete, was sich in der schillernden Spannung zwischen rührender Liebe und vorherrschenden Geschlechterkonventionen betrachten liesse.

In seinem Vortrag ging Peter Brunner natürlich auch auf Georg Büchner ein, schilderte ein unvergleichliches Leben und Werk, immer wieder auf die sozialgeschichtlichen und politischen Umstände zurückgebunden, mit einer Detailfülle an Personen und Geschehnissen. Und mit erhellenden Einschätzungen: Er betonte den damals unerhörten Montagecharakter von «Dantons Tod» hin. Er wies auf die besondere Wertschätzung hin, mit der der junge, unbekannte Büchner dank seines ersten Manuskripts, dessen Qualität offenbar sofort erkannt worden war, im Verlagsgeschäft behandelt wurde. Er arbeitete die Bedeutung von Büchners naturwissenschaftlichen Studien in der Diskussion über die teleologische Geschichtsauffassung heraus und rühmte die Scharfsichtigkeit, mit der Büchner in seiner Novelle «Lenz» die Schizophrenie des unglücklichen Dichters erkannt habe. Auch ein skurriles Detail wurde womöglich aufgeklärt: Dass die beiden Königreiche in «Leonce und Lena» Pipi und Popo heissen, mag mit der von Büchner als hinterwäldnerisch erlebten Darm-Stadt zu tun haben. Peter Brunner betonte alles in allem die grundsätzliche, vor Vereinseitigungen gefeite Ambivalenz Büchners, als Mensch und in seinem Werk – worüber in Details weiter zu diskutieren wäre.

Vom Rigiblick zur Spiegelgasse

Zuvor hatten sich am Donnerstagnachmittag Swantje und Peter Brunner sowie Stefan Howald am Grab von Büchner beim Rigiblick getroffen, wohin dessen Gebeine 1875 durch einen grossen Umzug aus dem aufgehobenen Stadtzürcher Friedhof Krautgarten umgebettet worden waren. Wie jedes Jahr sollte, für einmal um einen Tag verschoben, der Geburtstag von Georg am 17. Oktober gefeiert werden. Während des kurzen Eingedenkens trat eine Frau hinzu, dann zwei weitere, die sich nach dem Grab und dem Zusammensein erkundigten, mit unterschiedlicher Kenntnis von Georg Büchner, wobei alle drei nachmittags um 16.30 Uhr einem Glas Sekt nicht abgeneigt waren.

Am Sonntag wurde schliesslich ein Büchner-Rundgang durch Zürich unter Anleitung von Stefan Howald in der überraschend milden Herbstsonne durchgeführt. Er stand unter drei Stichworten: «Büchner, Asylpolitik und Kolonialismus», wozu auch eine kleine Broschüre vorliegt. Der Ausgangspunkt Büchner erlaubte es, die einstmals fortschrittliche Zürcher Asylpolitik zu beschreiben und, gleichsam als die Kehrseite der Medaille, oder deren Vorderseite, die Verstrickungen in die globale Kolonialwirtschaft zu dokumentieren. Der Rundgang begann wiederum beim Rigiblick, wo einst, 2013, auch der Linksbüchnerianismus aus der Taufe gehoben worden war, der sich zum Ziel setzt, die emanzipatorische Kraft von Büchner gegen verharmlosende Interpretationen zu fördern. Mit Seilbahn und Tram ins so genannte Plattenquartier hinuntergefahren, wurden dort die städtebaulichen Entwicklungen mit der vorherrschenden Baumeisterarchitektur und den zahlreichen Pensionen in der Nähe der Universität besichtigt. In solchen Pensionen hatte einst auch Rosa Luxemburg gewohnt, wobei an der Plattenstrasse 47 bislang die einzige Plakette in Zürich offiziell an sie erinnert – dazu kann ganz aktuell angeführt werden, dass jetzt in Altstetten ein Platz nach ihr benannt werden soll.

Der Name Hottingen bot Gelegenheit, anhand des Bankiers Hans-Konrad Hottinger auf die kolonialen Verflechtungen Zürichs hinzuweisen. Dabei wechselten diese frühen Zürcher Unternehmer zwischen Warenhandel und Geldgeschäften hin und her. Insbesondere in den beiden Amerika liess sich mit Baumwolle viel Geld machen, das in der Heimat durch Privatbanken vermehrt und für repräsentative Gebäude wie etwa die Villa Tobler an der Winkelwiese eingesetzt wurde. Am Zeltweg evozierte das ehemalige Restaurant Thaleck die Exiltätigkeiten der deutschen Sozialdemokratie und die Escherhäuser wiederum die Verstrickungen Zürichs in die koloniale Globalwirtschaft. Am Rüden und am Weinplatz vorbei, wo einst exilierte Deutsche ab den 1830er-Jahren die zürcherische Kultur und Politik vorangetrieben hatten, gelangte man zum Neumarkt, zum Geburtshaus des Schweizer Nationaldichters Gottfried Keller, dessen Werk selbst in den sich harmlos gebenden Seldwyler Geschichten kolonial grundiert erscheint. Schliesslich landete man in der Spiegelgasse, wo Erinnerungstafeln an Georg Büchner und Wladimir Lenin Haus an Haus hängen und wo Dada aus der Wiege gehoben worden war. Was Peter Weiss einst in seinem Stück «Trotzki im Exil» und in der «Ästhetik des Widerstands» zum Konzept der doppelten Revolution, der künstlerischen und der politischen, der geträumten und der wachen, veranlasst hat. Darüber entspann sich ein kleiner Disput, ob man Dada als künstlerische Revolution bezeichnen könne, worauf sich als Kompromiss der Begriff Revolte anbot. Was ja auch nicht wenig ist.

sh

 

Die Broschüre «Büchner, Asylpolitik und Kolonialismus» ist zur Schutzgebühr von 5 Franken via den bücherraum erhältlich: buch@buecherraumf.ch

Wer sich für den Linksbüchnerianismus interessiert, findet hier den Gründungsakt: https://www.stefanhowald.ch/aktuell/?p=63. Siehe auch die folgenden Interventionen auf der Website unter dem Stichwort Linksbüchneriaden.