Süchtige Stoffe

bücherräumereien (XXVIII)

Liebe Krimifreundinnen und Thrillerfreunde

Es freut mich, dass wir hiermit im bücherraum f unsere Veranstaltung zu neueren Krimis fortsetzen können. Die Welt torkelt immer noch ein wenig, aber die Krimiwelt steht nicht still. An diesem Abend geht es um eine englische und drei französische Autorinnen, und es geht gelegentlich um Süchte.

Das Ende der Sucht

Einst, vor dreissig Jahren als Pionierinnen in einer Männerdomäne, waren sie hart im Nehmen, standen auch beim Alkoholtrinken ihre Frau. Der tägliche Whisky oder die halbe Flasche Wein gehörten für diese feministischen Ermittlerinnen dazu, neben schnellem Mundwerk, harten Judokünsten und treffsicherer Pistole. Seither ist eine Generation vergangen, und die künstlichen Fluchten scheinen nicht mehr so erstrebenswert. In Trüb taucht Sarah Schulmans Heldin eben gerade aus der Entziehungskur auf (siehe Bericht unter http://www.stefanhowald.ch/aktuell/?p=3576). Liza Codys Lady Bag steckt im gleichnamigen Roman noch mitten in der Sucht drin. Und sie ist obdachlos. Alkoholismus ist (unmittelbare) Ursache ebenso wie Folge der Obdachlosigkeit. Natürlich steckt mehr dahinter: ein Mann, der sie dazu gebracht hat, seine finanziellen Betrügereien auf sich zu nehmen und für ihn ins Gefängnis zu gehen. Das System, das eine Strafentlassene nicht mehr zu integrieren vermag. Seither hat Lady Bag ihren bürgerlichen Namen abgelegt und lebt auf den Strassen von London. In Abbruchwohnungen, in Notschlafstellen, in Pärken. Das ist präzise, erbarmungslos geschildert, und in allen Widersprüchlichkeiten. Die Notwendigkeit, sich gegen die Kälte und Rohheit der Menschen mit Alkohol zu betäuben. Die Ausrede, damit man sich deswegen betäuben kann. Die Schicksalsgenossinnen der Strasse, die zugleich in scharfer Konkurrenz um beste Plätze, Essen und Alkohol stehen. Lady Bag liefert eine eindringliche Sozialreportage aus erster Hand, in einer ganz eigenen Stimme, die zwischen trockenem Humor und verzweifeltem Furor schwankt.

Natürlich gibt es auch eine Krimihandlung. Vor der National Portrait Gallery sieht Lady Bag ihren ehemaligen Freund, der sie ins Verderben gestürzt hat; sie folgt ihm insgeheim, wird niedergeschlagen, für jemand anderer gehalten, was ihr ein paar schöne Tage erlaubt, gerät dann folgerichtig unter Mordverdacht. Unterstützt wird sie von ihrer Hündin Elektra, die im trauten Zwiegespräch die Stimme der Vernunft verkörpert, von einem Transvestiten und einer Transe, mit derer Umwandlung sie sich schwertut wie eine herkömmliche Spiessbürgerin. Den Staatsgewalten gegenüber rettet sie sich in eine Doppelsprache über den Teufel, der sie ständig zu verführen droht. Zum Schluss landet Lady Bag wegen eines kleineres Vergehens erneut im Gefängnis, und ihre Geschichte, dass Frauen die Schuld von Männern auf sich nehmen, wiederholt sich mit und an einer anderen Frau.

 Vier Jahre später hat Liza Cody ihre Lady Bag in Krokodile und edle Ziele erneut auf die Strasse gesetzt. Gerade eben wird sie aus dem Gefängnis entlassen. Eine Zellengenossin bittet sie, sich um deren kleinen Sohn zu kümmern. Ihre drei FreundInnen sind noch da und unterstützen sie widerwillig. Dabei gerät sie ins Milieu heruntergekommener Sozialwohnungen und überfroderter SozialarbeiterInnen. Und die Bedrohung kommt aus den eigenen Reihen, einer neuen Freundin ihres Transvestiten, die ihren sozialen Dünkel stolz vor sich hertragt. Das ist wiederum scharfzüngig geschrieben, steigert sich in einzelnen Szenen zu kleinen Bravourstücken. Auch ist es eine Parforceleistung, welche Benennungen und Umschreibungen Lady Bag für den weiterhin in ihr Ohr flüsternden Teufel alles einfallen. Doch nutzt sich dieses Mittel mit der Zeit ein bisschen ab, ebenso wie die Zwiegespräche mit der treuen Elektra. Liza Codys ein paar Jahre früher erschienene Ballade einer vergessenen Toten war da im Einsatz unterschiedlicher Stilformen entschieden souveräner.

Von Liza Cody hat schema f übrigens nicht weniger als neun Bücher in den Regalen hinter Ihnen stehen, darunter fünf mit der Privatdetektivin Anna Lee aus den achtziger Jahren. Die neuen Bücher zeigen den Wandel der Zeiten, von der thematischen Öffnung bis zum zunehmenden Pessimismus.

Französischer Surrealismus

Nun stechen wir über den Ärmelkanal nach Frankreich. Französische Krimis hatten auf dem internationalen Markt lange einen schweren Stand, abgesehen von Georges Simenon mit seiner Massenproduktion – danke für den Einwurf, ja, er war Belgier, so wie Hercule Poirot. Also französischsprachige Krimis – in den achtziger Jahren versuchte der kleine deutsche Elster Verlag mit hübsch ausgestatteten Bändchen den französischen Anarchisten und Surrealisten Léo Malet zu lancieren, der zwischen 1940 und 1970 rund zwanzig Krimis schrieb, die sukzessive in allen Pariser Arrondissements handelten. Dann kam Fred Vargas und war 1991 mit ihrem zweiten Buch eine Offenbarung. Sie führte den eigenwilligen Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg samt ausgedehntem Polizeiteam ein, und in einer zweiten Reihe vier Amateurdetektive mit jeweils ganz eigenen Eigenschaften, die sich selbstironisch die vier Evangelisten nannten; wobei das Personal der beiden Serien sich teilweise überlappt. schema f besitzt fünf ihrer Bücher.

Vargas kommt nicht so sehr vom roman noir her, sondern stärker aus der Tradition Maigret mit dem Schwergewicht auf genauer Psychologie. Kommissar Adamsberg denkt nicht streng logisch, sondern lässt Gasbläschen in seinem Hirn treiben, um psychische Konstellationen und Mordmotive aufzuspüren. Die Figuren haben ihren eigenen Charme, «skurril» ist ein in Besprechungen oft verwendetes durchaus zutreffendes Adjektiv. Vargas, unter dem bürgerlichen Namen Frédérique Audoin-Rouzeau Archäologin und Historikerin und aus einer künstlerischen Familie stammend, verwendet zuweilen auch so etwas wie surreales penser automatique. Wichtig ist das Figurenensemble. Neben Adamsberg treten auf die Kommissare und Leutnants Danglard, Retancourt, Froissy, Veyrenc, Mordent, Mercadet … In ihrem neusten Werk Der Zorn der Einsiedlerin sind die ersten zweihundert Seiten, bis man sich die Figuren wieder vergegenwärtigt hat, ein Genuss. Der Fall dagegen ist schrecklich, wiewohl mit realem Vorbild: zwei Mädchen, die jahrelang eingesperrt und von ihrem Vater vergewaltigt, auch einer Bande von Männern angeboten worden sind. Die schuldigen Männer sterben nach vielen Jahren einer nach dem andern; offenbar rächt jemand die Mädchen, und zwar höchst ausgeklügelt mittels des Gifts der scheuen Einsiedlerspinne, obwohl das biologisch nicht so ganz möglich scheint. Was zurückführt zu den erlesensten Giftmorden in Krimis auf englischen Landsitzen. Vargas breitet alles nur erdenkliche Wissen über Spinnen, über mittelalterliche Reklusen, das heisst ausgestossene Einsiedlerinnen, und über archäologische Ausgrabungen aus und lässt das dann von Adamsberg intuitiv-psychologisch zusammenführen. Nur schade, dass eine halbwegs routinierte Krimileserin die Auflösung 150 Seiten früher erahnt, als die Gasbläschen bei Adamsberg in die richtige Ordnung geraten. Es scheint sich etwas anzubahnen: Neuere Krimis sind gelegentlich ein wenig zu lang.

Übertriebene Psychologisierung kann man Dominique Manotti nicht vorwerfen. Sie ist die gesellschaftspolitische Variante des neueren französischen Kriminalromans; nicht zufällig nennt sie die hard-boiled-Krimis von James Ellroy als wichtigsten Einfluss. Der ehemaligen Gewerkschaftssekretärin (bürgerlicher Name: Marie-Noëlle Thibault) geht es öfters um Wirtschaftskriminalität. Wie Vargas oder die empfehlenswerte TV-Serie Engrenages schildert sie das breite Ensemble auf einem Polizeirevier. – Natürlich, danke für den Einwurf, Sie haben Recht: Das gibt es auch im angelsächsischen Krimi, aber ich würde mal schätzen, dass das Ensemble dort jeweils kleiner ist, auf drei bis fünf Personen konzentriert. Manottis Hauptkommissar ist beruflich ziemlich hemdsärmelig und handgreiflich gegenüber den Verdächtigen – was nicht so weit an den französischen Zuständen vorbeigeht. Sozial hingegen ist er modern aufgemotzt, das heisst schwul, mit einem nahezu perfekten Hausmann für den Alltag, dazu gelegentlichen Eskapaden nicht abgeneigt, was er ein bisschen eitel vor sich herträgt. Manotti ist sich in diesem zügigen Frühwerk Zügellos noch nicht ganz klar, in welche Richtung sie gehen soll, ob sie den Polizisten als ebenso zynischen wie moralischen Einzelgänger darstellen oder ihn stärker zum Systemkritiker machen will. In den späteren Romanen, die ebenfalls bei Ariadne vorliegen, wird das deutlicher; sie sind auch präziser auf den Punkt geschrieben.

Ein schönes Alter

Der Höhepunkt der heutigen Auswahl kommt zum Schluss. Uneingeschränkt toll ist Die Alte von Hannelore Cayre. Das beginnt mit einer originellen Konstellation: Eine Arabisch-Übersetzerin muss der französischen Polizei all die Gaunereien aus dem weit verzweigten Drogenhandel übersetzen. Bis sie einen Dealer vor einer drohenden Verhaftung warnt, dann dessen Hasch-Ladung, die er eilig versteckt hat, aufspürt und auf eigene Kosten verhökert. Die Alte, als die sie sich maskiert, ist dabei den Ermittlungen immer einen Schritt voraus, da sie der Polizei ja deren Abhöraktionen im Milieu übersetzt. Patience Portefeux, die uns das selbst erzählt, bricht sprachlich und inhaltlich jedes nur erdenkliche Tabu. Die Mitglieder verschiedener nordafrikanischer Drogenbanden werden durchgängig mit abschätzigen Bemerkungen beschrieben; die Chinesen sind zwar ein bisschen cleverer, aber dafür noch ein bisschen ruchloser. Das wird ausgeglichen durch die schonungslose Darstellung des Staatsapparats, der entweder korrupt oder dysfunktional ist. Doch die Erzählperspektive ist in ihrer Mischung von Zynismus und Empathie jederzeit stimmig. Angesichts ihrer eigenen Geschichte aus dubiosem Elternhaus und ihrer jahrelangen Knochenarbeit am Rande des Zusammenbruchs ist es nur gut und recht, dass sie endlich auch mal profitiert. Doch kriegt man das Gefühl nicht los, das sei zu schön / zu erfolgreich, um wahr zu sein, umso mehr, als sie in einer losen Beziehung mit einem Drogenfahnder steht. Die Alte muss doch wohl – leider – auffliegen? Oder etwa doch nicht? Tja, das muss man und frau selber nachlesen.

Stefan Howald


Liza Cody: «Lady Bag». Aus dem Englischen von Laudan & Szelinski. Ariadne 1228. Argument Verlag, Hamburg 2017 (OA 2013, deutsche EA 2014). Broschur, 318 Seiten.
Liza Cody: «Krokodile und edle Ziele». Aus dem Englischen von Else Laudan. Ariadne 1227. Argument Verlag, Hamburg 2017 (OA 2017). Gebunden, 432 Seiten.
Fred Vargas: «Der Zorn der Einsiedlerin». Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze. Blanvalet Taschenbuch, München 2019 (OA 2017, deutsche EA 2018). Broschur, 508 Seiten.
Dominique Manotti: «Zügellos». Aus dem Französischen von Andrea Stephani. Ariadne Krimi 1193. Argument Verlag, Hamburg 2013 (OA 1997). Gebunden, 286 Seiten.
Hannelore Cayre: «Die Alte». Aus dem Französischen von Iris Konopik. Ariadne 1240. Argument Verlag, Hamburg 2019 (OA 2017). Gebunden, 204 Seiten.