Revolutionäre Aufbrüche

Robert Grimm in Oerlikon

Die Lehrwerkstätte lag gleich um die Ecke vom bücherraum f: Dort, wo jetzt der Binzgarten wirtschaftet, stand einst die Buchdruckerei Meier. In ihr absolvierte Robert Grimm vom Mai 1897 bis in den Mai 1899 seine Lehre. Grimm war 1881 in Wald in einer Arbeiterfamilie geboren, ein aufgeweckter, redseliger Knabe. Er sollte auch in der Fabrik arbeiten gehen, doch als er knapp sechzehn Jahre alt war, finanzierte ihm die Schwester Albertine ein Inserat in einer Zürcher Tageszeitung, in dem für einen willigen, einsatzbereiten Jungen eine Lehrstelle gegen eine moderate Entlöhnung gesucht wurde. Buchdrucker Meier stellte ihn auf den Mai 1897 ein; seine Druckerei befand sich an der Affolternstrasse 8 in Oerlikon. Dem städtischen Meldeschein lässt sich entnehmen, dass der junge Robert im Verlauf der zweijährigen Lehre an verschiedenen Stellen in der Nähe des Wohnsitzes seines Arbeitgebers in Fluntern zur Untermiete wohnte. Der führte auch ein Restaurant, in dem Grimm gelegentlich aushalf.

Monika Wicki, Präsidentin der Robert-Grimm-Gesellschaft, veranschaulichte diese Anfänge des späteren Sozialisten und Generalstreikführers mit vielen Bildern in einem lebhaften Vortrag im bücherraum f. In der Druckerei Meier wurden unter anderem die Lokalzeitungen «Echo vom Zürichberg» und «Limmat» gedruckt, und Wicki machte mit Ausschnitten daraus das geschichtliche Umfeld deutlich, das Grimm antraf, etwa einen Auftritt von SP-Gründer Herman Greulich im Gemeinderat, aktuelle Bauvorhaben in der schnell wachsenden Gemeinde oder Debatten zum Ausbau der gemeinnützigen Krankenpflege.

Anhand von zeitgenössischen Fotografien wurde auch die Strecke abgeschritten, die Grimm von Fluntern in die Druckerei womöglich benützt hatte. Oerlikon hatte sich 1872 von der Munizipalgemeinde Schwamendingen, der es seit 1799 angehört hatte, selbstständig gemacht und war im industriellen Aufschwung begriffen, gefördert durch den 1855 begonnenen Bau der Nordostbahn. Die 1876 gegründete Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) begann ihre rasante Erfolgsgeschichte, als sie 1884 auf die neue Elektrotechnik setzte. Die Fotografien zeigten, bei beinahe idyllischer Ausgangslage, diesen rasanten Umbruch ansatzweise. Etliche der lokal ansässigen Anwesenden konnten bei der genaueren Verortung mithelfen. Hier wäre Grimm rechterhand an der Kirche vorbeigekommen, und dieser bescheidene Bahnübergang musste wohl die heutige Regensbergbrücke sein. Die Affolternstrasse, an der die Buchdruckerei Meier gestanden hatte, ist ja mit dem Umbau des Bahnhofs vor ein paar Jahren ein wenig nach Nordwesten gerückt.

Blick auf Oerlikon um 1900 entlang der Schaffhauserstrasse Richtung Milchbuck

Insbesondere Bahn und Strassenbahn veränderten um 1900 das lokale Verkehrsnetz und die Bebauung. Kurz nach dem Lehrantritt von Robert Grimm wurden die ersten Tramschienen gelegt. Die Strassenbahn war ein Privatunternehmen, die MFO hatte auf Antrag die Genehmigung für eine eigene Linie bekommen, und die AG «Strassenbahn Zürich-Oerlikon-Seebach» ZOS nahm im Oktober 1897 den Betrieb auf. Weil die Schweizerische Nordostbahn aus Konkurrenzgründen das Kreuzen ihrer Geleise durch Passagiertrams untersagte, führte die ZOS die Tramzüge anfänglich vom Zürcher Central bis zum Bahnhof Oerlikon, wo die Passagiere nach Seebach ausstiegen, den Bahnübergang zu Fuss überquerten und auf der anderen Seite in ein bereitstehendes Tram stiegen, das sie nach Seebach brachte.

Restaurant und Hotel Sternen, im Februar 1897 im alten Teil des Quartiers eröffnet, hatte Grimm wohl auch gekannt. Gegenüber der Buchdruckerei, an der Affolternstrasse 9, stand das Restaurant Heimat, in das sich später die 1903 gegründete Oerlikoner Sektion des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbands SMUV mit Sekretariat und Versammlungslokal einmietete.

In der Druckerei begann Grimm, wie er selbst angemerkt hat, zu schreiben. Handfeste Belege liegen nicht vor, da die Beiträge in den Lokalzeitungen nicht namentlich gezeichnet wurden, aber Wicki präsentierte in konjektureller Geschichtsschreibung einige zeitgenössische Texte, die er womöglich hätte verfassen können, etwa über den Herbstmarkt in seiner Heimatgemeinde Wald, den er vielleicht im Oktober 1897 besucht hatte, oder über die Kantonsratswahlen 1899. Es sind funktionale Texte, und darin lässt sich noch nichts vom späteren rhetorischen Feuer von Grimm erkennen.

Im Mai 1899 schloss Robert Grimm seine Lehre ab und trat die erste Stelle in Horgen bei der Buchdruckerei Schläpfer an. Ein Jahr später startete er zu den berufsüblichen Wanderjahren. Wicki zeigte die beträchtlichen Distanzen die damals zurückgelegt wurden, zum Schluss, im August 1902 waren es von Triest her wohl 700 Kilometer in zwanzig Tagen: Eine Fotografie zeigt einen entsprechend abgekämpften Wandergesellen Grimm. Mehrfach engagierte er sich danach in Arbeitskämpfen und wurde 1905 auf eine schwarze Liste gesetzt. Jetzt wird er Gewerkschaftsfunktionär, und damit beginnt eine Karriere, die ihn zu einem der bekanntesten europäischen Arbeiterführer macht. Bekannt wird er zuerst in Bern, in Zusammenarbeit mit den radikaleren Zürchern, auf deren Liste er 1911 in den Nationalrat gewählt wird. Seine internationale Bedeutung erringt er als Kriegsgegner, der 1915 und 1916 die Konferenzen der europäischen KriegsgegnerInnen in Zimmerwald und Kiental organisiert. Auf dem Teilnahmeblatt findet sich sein Name unter anderem neben denen von  Lenin, Trotzki, Karl Radek, Georg Ledebour und Henriette Roland Holst. Es sind Friedenskonferenzen, wie Monika Wicki betont, obwohl diejenige von Kiental ein radikaleres gesellschaftspolitisches Manifest verabschiedet. Denn Grimm, Zeit seines Lebens Marxist, distanziert sich schon bald von der kommunistischen Bewegung.

Wicki streifte beiläufig auch die zeitgenössisch eher patriarchale Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern, die Grimms erste Ehe mit Rosa Reichesberg scheitern liess. Wir verliessen Grimm noch vor seiner Rolle bei dem letztes Jahr umfänglich gewürdigten Generalstreik mit einer raschen Auflistung seiner zahlreichen späteren Funktionen und Ämter. Es war eine vergnügliche Geschichtsstunde, mit aktuellen politischen wie auch lokalen städtebaulichen Bezügen.

Stefan Howald

Weitere Informationen: http://www.robertgrimm.ch/


Fotografien: Städtebauliches Archiv, Verein Ortsgeschichte Seebach, Monika Wicki