Plötzlich an unser Herz greifen

Liselotte Lüscher im bücherraum f

Diese Gedichte wachsen öfters aus der Naturerfahrung und Naturbeobachtung heraus, aus denen sich Beobachtungen, Reflexionen erheben, über das Ich und wie es in der Welt steht, wiederum an die Natur zurückgebunden.

Das lyrisch gefasste Leben ist ganz eigen, alltäglich und doch verallgemeinert, wie es uns allen zustossen könnte, Schmerz oder Freude im Schneegestöber.

1959 Januar 10.

wir sind es
die in dem schnee
plötzlich an unser herz greifen
was ist es
das uns hält
zwischen den fallenden flocken
wir können fühlen wie der wind
an unsere rücken stösst
und etwas ergreift uns
in dem schnee

Die langjährige Lehrerin und Erziehungswissenschaftlerin Liselotte Lüscher besuchte am 25. Oktober mit ihrem Gedichtband «… sozusagen als Tagebuch» den bücherraum f. In ihrer erhellenden Einführung skizzierte Verena Stettler die Entstehung des Bandes. Die Gedichte lassen sich drei Lebensabschnitten von Liselotte Lüscher zuordnen. Angeordnet sind in drei Abteilungen, mit den einen lakonischen Bogen spannenden Überschriften «jung gewesen», «weder jung noch alt», «älter und alt geworden».

Aus dem Alleinsein sind manche der frühen Gedichte entstanden, zur Selbstverständigung, oder dann in intensiven, zuweilen bedrohlichen Momenten, Momente, die, wie Liselotte Lüscher geschrieben hat, sie «hinauswarfen aus dem, was mich umgab. Eine Art kurzer Verrücktheit, im eigentlichen Sinn des Wortes. Dann schrieb ich, als ob ich Halt suchte.» Aber in den so entstandenen Texten findet sich keine Larmoyanz, kein Trübsinn oder Selbstmitleid. Denn neben der Bewältigung des Alltags ging es immer auch «ums Schreiben an sich». Da wird dann eine Disziplin sichtbar, wie die Sprache rhythmisch gegliedert wird und dabei knappe, präzise umgesetzt einfasst.

1972 November 28.

heute morgen stehe ich auf müde
schon scheint die sonne schräg
die blauschwarzen schatten stehen da
und ich erinnere mich
an gestern an das licht an den rauch
an die liebe die in mir war
manchmal möchte ich mich herausheben
manchmal möchte ich mit mir
woanders hin

Ja, und dann geht es auch ums Alter und um den Tod. Der wirft seine Schatten, nicht bedrohlich, eher als Tatsache, der ins Auge zu blicken ist, gefasst, ohne doch die existenzielle Empörung darüber ganz aufzugeben und die vergebliche Hoffnung eines anderen Ausgangs kurz zu bedenken.

2016, Januar 14.

überall schaut die welt
noch hervor
unter dem dünnen schnee
so wird es sein
zwischen mich und dies alles
ein graues tuch gesenkt
und ich weggerückt
und die kraft nicht mehr
es zu zerwühlen
hätte ich doch eine seele
die hüpfte über den dünnen schnee
und den glasigen tümpel
und irgendwohin
als lebte ich noch

Gegliedert wurde die Lesung von kurzen Stücken perlend verhaltener Klavierklänge. Es war, gerade auch in Zeiten der Pandemie, ein Nachmittag voller melancholischer Schönheit.


Liselotte Lüscher: «… sozusagen als Tagebuch». Gedichte. Edition 8, Zürich 2020. 126 Seiten.