Mord in Neu-Oerlikon und Totschlag im Jungpaläolithikum bücherräumereien XLIX: Neue Krimis von Frauen im bücherraum f

Sie sollten endlich dem „Rätsel des Toten in Neu-Oerlikon“ auf die Spur kommen, ermahnt Kriminalkommissarin Delphine Morel ihren Partner, was natürlich wegen des Schauplatzes ganz in unserem Sinn ist. Also folgen wir den Mordspuren beim MFO-Park durch Neu- und ein wenig auch Alt-Oerlikon. Dabei geraten wir gleich um die Ecke vom bücherraum – also bereits in Seebach!– in eine Spielrunde im einschlägigen Tactica-Laden, die mittlerweile leider nicht mehr stattfinden könnte, weil dort jetzt ein indischer Laden eingezogen ist: Seebach beherbergt ja einen Viertel aller in der ganzen Stadt lebenden InderInnen, zumeist in der IT-Branche tätig.

Item, ansonsten geht es einem wie immer bei diesen Lokalkrimis, dass man verfolgt, ob man jene Orte und Plätze erkenne, die genannt werden, also zum Beispiel die Venus-Bar mit ihrem – Achtung, Werbung – Brunch oder das Gemeinschaftszentrum, und ob die Sophie-Täuber-Strasse tatsächlich zum hinteren Ende des MFO-Parks führe. Esther Reins Erstling erfüllt die gegenwärtigen Anforderungen ans Genre: eine Kommissarin um die 35 mit zwei unterschiedlichen Mitstreitern, der eine gelassen und routiniert, der andere jung und übereifrig; sie lebt in einer halbwegs offenen Beziehung, mitsamt einem Kater namens Alain. Ansonsten ist die Szenerie in Neu-Oerlikon erstaunlich altmodisch. Morel trinkt am liebsten Kir Royal – ist das nicht ein bisschen 80er-Jahre? Immerhin, sie fährt privat und im Dienst ein E-Velo.

Das alles vollzieht sich in sauberen Sätzen in eher gemächlichem Tempo; wobei in einem heissen Sommer viel Schweiss rinnt und Delphine Morel bei den für LeserInnen nicht ganz so unerwarteten Wendungen wiederholt nach Luft schnappen muss. Wenn man bedenkt, dass die Kommissarin zu voreiligen Schlüssen neigt und dem Täter ein Geständnis durch eine Falschaussage von ihr in dessen Garten entlockt, ohne das Geständnis irgendwie festzuhalten, zudem welche Mengen von Süssgebäck das ErmittlerInnentrio verschlingt, dann steigt das Vertrauen in die Zürcher Mordkommission – pardon, die Abteilung Leib und Leben – nicht unbedingt.

Moralstudie und Geschichtsentwurf

Der Erstling von Hannelore Cayre «La daronne» war ein witziges Moralstück. Cayre steht in der Tradition des neuen französischen feministischen Krimis, der mit Fred Vargas um die Jahrhundertwende begann und zu dem auch Dominique Manotti gehört, die so wie Cayre bei Ariadne verlegt wird. In dem französisch 2019 und deutsch 2020 erschienenen Roman «Die Alte» entscheidet sich die Arabisch-Dolmetscherin Patience Portefeux, die für die Polizei Handygespräche von Drogenhändlern abhört und übersetzt, selbst in den Drogenhandel einzusteigen. Die ungehemmte und wie es in einer Trigger-Warnung heisst politisch unkorrekte Ich-Erzählerin berichtet plastisch und sarkastisch, wie sie in allerlei gefährliche Situationen zwischen Polizei und – ausnahmslos männlichen – Drogenhändlern gerät und letztlich alle übers Ohr zu hauen vermag. Selbst die Verfilmung «Eine Frau mit berauschenden Talenten» von 2020 mit Isabelle Hupert vermag ein wenig des subversiven Charmes zu erhalten.

Cayres zweiter Roman «Reichtum verpflichtet» ist ein beeindruckendes Gesellschaftspanorama. Französich 2020 und deutsch 2021 publiziert, gibt es darin wiederum eine eigenwillige Ich-Erzählerin, die körperlich schwer behinderte Blanche de Rigny, die aufgrund einer unerwarteten Erbschaft ihre bretonische Familie zu erforschen beginnt, insbesondere Auguste de Rigny, der 1870/71 in die Wirren des deutsch-französischen Kriegs und der Kommune gerät. Die historisch detailreiche Darstellung veranschaulicht auch, wie im 19. Jahrhundert inmitten von Klassenkämpfen grosse Vermögen entstehen, die bis in die heutige Zeit reichen, mit dubiosen Finanz- und anderen Geschäften. In der Gegenwartshandlung verlegt sich auch diese Heldin darauf, Listen von DrogenkonsumentInnen, die sie aus dem polizeilichen Papierkram ihrer administrativen Tätigkeit zieht, zu verklickern; das Geld soll für geradezu systemsprengende Projekte im Tier- und Umweltschutz eingesetzt werden, Ergebnis offen.

Der neuste Roman «Finger ab» ist ein nur halbwegs geglückter Geschichtsentwurf. Cayre steigt in ihrem vorläufig jüngsten, im Original 2023 und auf deutsch 2024 erschienenen Roman noch tiefer in die Geschichte hinab. Eine Leiche, oder besser ein Gerippe wird als Überrest eines 35 000 Jahre alten Homo sapiens, oder einer Homa sapiens, identifiziert, und die Höhle, in der es und andere Knochen samt verschiedenen Artefakten und Wandmalereien über die Jahrtausende verschlossen ruhten, ist der Anlass, eine Geschichte um eine kleine Sippe des frühen Homo sapiens im Jungpaläolithikum zu erzählen. „Finger ab“ ist dabei die wörtlich zu nehmende Gewalttat, mit der Frauen verstümmelt werden, um sie vom Jagen mit Speeren abzuhalten und generell als Gebärmaschinen unterwürfig zu halten. Die junge Oli, die sich dem ewigen Kreislauf von Sex, Gewalt und Gebären früh entziehen kann, widersetzt sich den jungsteinzeitlichen Sitten und Gebräuchen, macht sich auf an die Atlantikküste, stösst auf andere Gruppen von Homo sapientes, auch auf NeandertalerInnen und gerät in eine tödliche Auseinandersetzung mit dem Sippenältesten. In parallel geschalteten Passagen interpretiert eine zeitgenössische Paläontologin die diversen Funde in der Höhle unter feministischem Blick.

In ihrem Aufbegehren erahnt Oli nicht nur die Mechanismen, mit denen die Männerherrschaft abgesichert wird, sondern sie nimmt sich erstmals als eigenständiges, reflektierendes Subjekt jenseits der kreatürlichen Existenz wahr, während ihre Schwester im Erzählen die generationenübergreifende Überlieferung erkennt. Neben der in der aktuellen anthropologischen Forschung durchaus diskutierten Rekonstruktion einer andern gegenderten Geschichte steckt in Cayres Erzählung eine weitere, ambivalente These über den technischen Fortschritt. Oli erfindet nämlich den Pfeilbogen und erringt gegenüber den andern Hominiden, die ihre Speere von blosser Hand werfen, einen technologischen Vorteil, der jenseits der Gendergrenzen eine neue Stufe der Gewaltanwendung ankündigt.

Das ist in Details wie Thesen anregend. Leider entspricht das literarische Niveau von Cayres neustem Roman ohne Ich-Erzählerin für einmal dem eines SJU-Geschichtshefts, und mit der Zeit fällt auch störend auf, dass die Wissenschaftlerin immer genau zu jenen wenn auch als hypothetisch relativierten Schlüssen kommt, die wir vorher im historischen Bericht als Realität erzählt bekommen haben – was denn doch den Anschein erweckt, hier werde durchaus paternalistisch oder maternalistisch dem eigenen Interpretationsvermögen der LeserInnen nicht gerade viel zugetraut.

 

Esther Rein: Neu-Oerlikon. Ein Fall für Morel. Zürich-Krimi. Th. Gut Verlag, Stäfa 2024. Broschur, 240 Seiten.

Hannelore Cayre: Die Alte. Aus dem Französischen von Iris Konopik. Ariadne 1240. Hamburg, Argument Verlag 2019. Gebunden, 204 Seiten.

Hannelore Cayre: Reichtum verpflichtet. Aus dem Französischen von Iris Konopik. Ariadne 1252. Hamburg, Argument-Verlag 2021. Gebunden, 256 Seiten.

Hannelore Cayre: Finger ab. Aus dem Französischen von Iris Konopik. Ariadne 1279. Hamburg, Argument-Verlag 2024. Broschur, 204 Seiten.