Linien der Geschichte Bücherräumereien XXXIX

Wieder mal im reizenden philosophe in D. beim büchertausch. Täuscht es, oder sind dieses Jahr noch mehr Bücher vorhanden als früher, aber auch mehr Leute, die tauschen wollen? Nein, sagt der unermüdliche Organisator Hans H., es lasse sich schon beinahe von einem Ansturm sprechen. Gelegentlich muss man sich gegenseitig sogar ausweichen, um den Reihen der aufgebauten Bücher entlang zu schlendern. Wobei, der Lehrling, mit dem zusammen ich den Anlass besuche, fühlt sich überwiegend von älteren BuchfreundInnen umgeben und begnügt sich dann mit einem dicken Band über Arbeitsorganisation. Zum Schluss bleiben natürlich nicht wenige Bücher zurück, aber etliche finden doch ein neues Büchergestell, oder landen auf einer Beige auf einem Nachttisch.

Mehr zurückbringen als selbst hingebracht liegt allerdings nicht drin, sagt man sich vor. Dieser blaue Band muss allerdings schon behändigt werden. Damit ist man doch einst halbwegs gebildet worden. Neben dem Kulturfahrplan, der schon früher bei passender Gelegenheit gewürdigt worden ist (siehe Podcast zu Atlanten), gehörte auch Putzgers Historischer Weltatlas zur Bildungsausrüstung während der Gymnasialzeit, und für einen angehenden Archäologen sowieso. Hier liegt also die 102. Auflage auf dem Tisch, von 1999. Gegründet worden ist der Putzger, was nicht mehr bewusst war, 1877. Es gibt ihn heute noch auf Papier gedruckt, gegenwärtig im neu bearbeiteten 105. Jahrgang.

Der «Weltatlas» war stark eurozentrisch, was beim Gebrauch 1972 noch als selbstverständlich erschien, und die Ausgabe von 1999 ist es geblieben. Die ersten zehn Kapitel sind Europa gewidmet, zuweilen sind sie auch mit «Europa und die Welt», einmal immerhin mit «die Welt und Europa» überschrieben. Die frühen Hochkulturen haben sich nach dem Putzger vor allem im Mittelmeerraum abgespielt. Griechenland bis und mit Alexander wird auf zehn Seiten ausgebreitet, das römische Weltreich bis zur Auflösung gar auf sechzehn, während die chinesischen Reiche sich bis 1600 mit einer halben Seite begnügen müssen. Danach, «seit Beginn der Neuzeit», werden immerhin einzelne Kapitel jeweils für Nordamerika, Südamerika, Russland, Asien und Afrika reserviert. Ein bisschen korrigiert wird diese Schlagseite im Register, das weit über blosse Seitenverweise hinausgeht und Gebiete, Kulturen und Nationen länger charakterisiert, die auf den Karten nicht eben gross registriert sind. Dass der Putzger Deutschland ein wenig überproportional berücksichtigt, versteht sich beinahe von selbst.

     

Die Karten sind unterschiedlich ergiebig. Es gibt diejenigen, die ins Auge springen. Alexanders Feldzug bis 323 v.u.Z. zeigt die ungeheuerlichen Distanzen, die seine Heere zurücklegten (über die Köche, die ihn begleitet haben, erfährt man allerdings nichts, auch nichts über die Toten). Mitteleuropa ist 1648, nach dem 30-jährigen Krieg, in zahllose Kleinststaaten und Fürstentümer und autonomen Herrschaften verfallen, was Georg Büchner 1836 noch persifliert, da Leonce mit einem Sprung deutsche Grenzen überquert. Der zeitlich datierte Anschluss von Gebieten an die heutigen USA zeigt deren Drang nach Westen. Die Wanderungsbewegungen in Afrika sind frappant, könnten aber natürlich weitere Erläuterungen gebrauchen. Schwieriger wird es, wenn zu viele Informationen vermittelt werden sollen, etwa wenn auf einer Karte zu europäischen Machtverhältnissen auch die Grössen von Städten anhand unterschiedlicher, nur sehr schwer zu unterscheidender Ringe dokumentiert werden sollen. Besonders schwer haben es die ökonomischen Karten, auf denen der Abbau von zehn verschiedenen Rohstoffen, von durch Fördertürmen symbolisierten Abbaugebieten und durch Fabriken versinnbildlichter Schwerindustrieregionen sich zu einem Wimmelbild versammeln. Allerdings sind einige Karten, etwa die deutschen Reichstagswahlen von 1871 bis 1912, jenseits etlicher Prozentzahlen allein durch die regionale Verteilung der Wahlanteile von Zentrums- versus sozialdemokratischer Partei aufschlussreich. Umgekehrt stossen die meisten Weltkarten bald an, nun, Grenzen. Rot leuchten etwa die «Brennpunkte der Weltpolitik» nach 1989, doch veranschaulicht dies nicht mehr, als dass mit dem Ende des Kalten Kriegs die Kriegs- und Krisengeschichte nicht geendet hat.

Enttäuschenderweise finden sich unter den Büchern im philosophe keine echten Ex Libris. Immerhin, ein Buch, das aus einer Bibliothek ausgeschieden worden ist, fällt in die Hände. «Der Fall» von Albert Camus, aus der Bibliothek Suhrkamp, 11. bis 15. Tausend 1964, ist mit einem durchgestrichenen Stempel vermerkt als ehemaliges «Eigentum des Hess. Staates. Lehrbüchersammlung Geschw. Scholl Schule Melsungen, Nummer 21». Die Schule in Nordhessen, vermeldet sie auf ihrer Website, ist 1869 gegründet worden, als kirchlich geprägte Anstalt zur Erlangung der „Mittleren Reife“, ist dann von Kurhessen nach Preussen geraten, hat verschiedene Metamorphosen durchgemacht und sich als Oberstufengymnasium 1960 zur Geschwister-Scholl-Schule umgetauft, in Erinnerung an die antifaschistischen WiderstandskämpferInnen Sophie und Hans Scholl, die am 22. Februar 1943 von den Nazis hingerichtet wurden.

Wikipedia listet für 2010 in Deutschland rund 180 Geschwister-Scholl-Schulen auf, wobei, wie es in diesem Fall erstaunlich nicht aktuell, oder veraltet, heisst, jedes Jahr zwei bis drei neue hinzukämen, oder hinzugekommen sein würden, müsste man wohl in einem konjunktivischen Futur sagen. Ein stichprobenartiger Durchgang zeigt, dass Melsungen eine der früheren Schulen mit dieser Namensgebung war; vorangegangen waren etwa Düsseldorf 1946 sowie 1949 Eisenach und Sondershausen in der sich damals konstituierenden DDR. Grosse Schulen in München (1962), Frankfurt (1964) oder Ludwigshafen (1964) folgten derjenigen im roten Hessen ein wenig später, doch erst in den 1970er-Jahren, auch durch die 68 angestossene neue Aufarbeitung der Nazi-Zeit gefördert, gab es eine breitere Bewegung, vor allem bei im Zeichen verschiedener Bildungsoffensiven neu errichteter Schulen.

Wie dann “Der Fall” 1969 in private Hände geriet und namentlich in Besitz genommen wurde, wäre eine andere Geschichte. Auch sonst finden sich im philosophe etliche Bücher mit einstigen Widmungen, aber die entsprechenden Geschichten gehen wohl nur die entsprechenden zwei Menschen etwas an.

Stefan Howald