Ins Freie, ans Wasser

Seit Jahren wird um einen Uferweg rund um den Zürichsee gekämpft. Doch private Interessen stemmen sich dagegen. Auch Seebach und der bücherraum liegen am See, da doch zahlreiche BewohnerInnen von hier ihn vielfältig als Erholungsraum nützen. Eine entsprechende kantonale Verfassungsinitiative, die UferInitiative, ist im November 2021 eingereicht worden, soll aber erst 2024 zur Abstimmung kommen. Der Historiker Willy A. Rüegg hat die vielfältige Geschichte des Zürichsees, seiner Veränderungen und der entsprechenden Auseinandersetzungen in einem schönen Buch beschrieben. Julia Gerber Rüegg ist die treibende Kraft hinter der Uferinitiative. Zusammen weilten sie kürzlich im bücherraum und boten einen faszinierenden Einblick in Kultur und Politik um den See. Im Folgenden stellt Willy A. Rüegg seine Recherchen und Schlussfolgerungen dar.

Der Zürichsee – Brennpunkt gegensätzlicher Interessen

Der Zürichsee wird spöttisch gerne als 65 km² grosser Swimmingpool bezeichnet, der zwar von der ganzen Bevölkerung auf unterschiedlichste Weisen intensiv genutzt wird, jedoch mit einem natürlichen See nicht mehr viele Gemeinsamkeiten hat. So ist die Berufs- und Hobby-Fischerei heute nur noch möglich, weil der Fischbestand mit künstlicher Fischzucht aufrechterhalten wird. Die Wasserqualität ist vollständig vom Funktionieren mehrstufiger Kläranlagen abhängig, der Wasserstand ist technisch eingestellt, und nahezu alle menschlichen Aktivitäten am See sind gesetzlich reguliert, kontingentiert und kontrolliert.

Biochemische Veränderungen im See, der Hauptquelle unseres Trinkwassers, betreffen uns unmittelbar und sofort. Das Wirken der Menschen hat seit jeher einen ständigen Wandel in ihrer Umwelt verursacht, und dieser hat wiederum die Lebensweise der Menschen verändert. Der See ist daher auf intimste Weise verbunden mit der gesamten Region als Lebens- und Wirtschaftsraum und ihren Bewohnerinnen und Bewohnern, deren Handeln von Traditionen und Regeln geprägt ist. Wie haben sich also die Lebensumstände und das Verhältnis der Menschen mit dem See über die Jahrhunderte verändert?

Das Erscheinungsbild des Zürichsees wird von Tausenden von Aufschüttungen geprägt, die über einen Zeitraum von mehr als zweihundert Jahren hinweg erstellt worden sind und über 95 Prozent der heutigen Seeufer ausmachen. Wie vollkommen anders die Ufer vor hundert oder gar zweihundert Jahren aussahen, vermögen noch einige der berühmten Landschaftsgemälde von Rudolf Koller (1828-1905), der im Zürcher Seefeld wohnte und malte, sowie frühe Fotografien und seit den 1880er Jahren auch fotografische Ansichtskarten zu vermitteln.

Politische und juristische Gefechte

Mit den Aufschüttungen wurde Neuland geschaffen, das bepflanzt und überbaut wurde. Die Seeufer wurden zu einem Entwicklungsgebiet, das jahrzehntelang zum Bau von Industrieanlagen und für die Siedlungsentwicklung genutzt wurde. Entsprechend waren die Aufschüttungen seit ihrer Entstehung stets Brennpunkte wirtschaftlicher und politischer, aber auch privater und öffentlicher Interessen. Hier manifestierte sich der wirtschaftliche Aufschwung, und hier winkte materieller Gewinn. Wer waren die Akteure dieser Transformation der Ufer? Welche Beweggründe trieben sie an, und welchen Nutzen zogen sie daraus?

In meinem Buch „See Ufer Weg“ greife ich grundlegende Begriffe und Argumente auf, die in der öffentlichen Diskussion zum Thema Konzessionsland immer wieder verwendet werden. Im historischen Kontext wird erläutert, wie die Aufschüttungen und die Nutzung des entsprechenden Neulands bewilligt wurden. Während dieses so genannte Konzessionsland ursprünglich in Privatbesitz überging, wird mittlerweile die Praxis geübt, dass Neuaufschüttungen als Reduktion bzw. Entzug der öffentlichen Gewässer in den Besitz des Kantons übergehen.

An ausgewählten Streitfällen am See lassen sich exemplarisch die Spannungen in der Umsetzung politischer Vorhaben und die Handhabung der Regelungen durch die Behörden aufzeigen. Dabei porträtiere ich einige Persönlichkeiten und Vereinigungen, welche als Vordenker und einflussreiche Wortführende ein ausserordentliches Engagement an den Tag legten und mit ihren Ideen, Visionen und Projekten die Diskussionen am See inspirierten und befeuerten. Wegleitende Gerichtsurteilen illustrieren die Rechtspraxis der letzten Jahrzehnte und zeigen den zunehmenden Einfluss der Gerichte auf. Bei der Beurteilung konkreter Fälle strukturierten sie die Auslegung der Gesetze und kamen zum Teil zu massgeblichen Entscheiden in Grundsatzfragen, welche die übliche Praxis der Verwaltung sowie Beschlüsse der Regierung und sogar des Parlaments korrigierten. So wird das Buch zu einem Kompendium relevanter Gesetzestexte und Gerichtsurteile, die bis heute die rechtlichen Grundlagen für die öffentliche und private Nutzung des Seeufers darstellen.

Seeuferweg

Die Auffüllung bioproduktiver Untiefen in Ufernähe, wo der Stoffwechsel des Sees am intensivsten stattfindet, hat die Fähigkeit zur Selbstregeneration des Zürichsees vermindert. Essenzielle ökologische Prozesse wie die saisonale Umwälzung des Seewassers sind durch menschliches Handeln eingeschränkt worden. Daher gibt es in den Tiefenzonen des Sees, wo sich die abgesunkenen organischen Materialien zersetzen und nur geringer Wasseraustausch stattfindet, zu wenig Sauerstoff, als dass grössere Organismen dort leben könnten. Der Zürichsee ist im 20. Jahrhundert zu einem Pflegefall geworden.

Der stete Wandel in der Wahrnehmung des Sees und seiner Ufer war von den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und vom Zeitgeist abhängig. Dies zeigt sich am Werdegang des langfristig angelegten Projektes eines durchgehenden Seeuferwegs, das mit der Geschichte der Aufschüttungen direkt verbunden ist. Die verwickelte Geschichte dieses Projektes geht einher mit der Vertiefung sozio-ökonomischer Gegensätze in der Bevölkerung sowie zunehmender parteipolitischer Polarisierung an den beiden Seeufern. Die Vision des Seeuferwegs wurde in Form der Seestrassen und der Quaianlagen erstmals realisiert, dann aber dem zunehmenden Verkehr und später dem motorisierten Individualverkehr geopfert. Seit den 1930er-Jahren sind mehrere Teilstücke eines Fusswegs am Seeufer realisiert worden und stehen der Bevölkerung heute zur Verfügung. Am oberen linken Ufer ist auf diese Art ein ausgedehnter und weitgehend zusammenhängender Seeuferweg entstanden, der tatsächlich zum grössten Teil direkt am Wasser verläuft. Auf dem Gebiet der Stadt Zürich ist der See sogar durchgehend für Fussgängerinnen und Fussgänger erschlossen. Seit vielen Jahren sind jedoch Bauvorhaben für weitere Seeuferwegstücke in den Seegemeinden politisch verhindert und auf Eis gelegt worden.

Um das Projekt Seeuferweg ist ein harter politischer Kampf im Gange, in dem sich private und öffentliche Interessen gegenüberstehen. Dieser Konflikt hat eine lange Geschichte, die gut dokumentiert, in der Öffentlichkeit aber wenig bekannt ist. Der Raum am Zürichseeufer ist beschränkt, zum grössten Teil überbaut und in Privatbesitz. Durch die stetig zunehmende bauliche Verdichtung auf Privatgrundstücken geraten die Bedürfnisse des Sees als Ökosystem immer mehr unter Druck. Manche Landeigentümer am See vertreten unter Berufung auf die Bundesverfassung einen absoluten Eigentumsbegriff, der gesellschaftliche Interessen vollständig ausser Acht lässt und im Widerspruch zum Prinzip des Konzessionslandes steht. Die Verfechter eines durchgehenden Seeuferwegs anderseits bestreiten die Rechtmässigkeit dieses Eigentumsbegriffs und vertreten die Forderung nach freiem Zugang zum Ufer als Naherholungs- und Naturschutzgebiet sowie nach grösserer Bewegungsfreiheit im dicht bebauten Raum.

Ausser Frage steht, dass die heute gültigen Gesetze und Regeln konsequent umzusetzen sind, sei es bei den Eigentumsverhältnissen, den Bauvorschriften oder bei Schutzbestimmungen, wie dem Pestizidverbot im Gewässerraum. Besondere Bedeutung kommt dabei der Sicherung der Biodiversität und der ökologischen Aufwertung der Ufer zu, die heute unbestritten zu den vordringlichsten öffentlichen Interessen zu zählen sind. Doch auch die übrigen öffentlichen Interessen sind aus unserer heutigen Sicht zu überdenken, zu konkretisieren und durchzusetzen. Daraus dürfte auch eine neue, zeitgemässe Definition des Begriffs des Gemeingebrauchs öffentlicher Güter sowie des öffentlichen Interesses in Bezug auf die Seeufer resultieren.

Willy A. Rüegg: See Ufer Weg. Der Zürichsee im Brennpunkt unterschiedlicher Interessen. Stutz Verlag, Wädenswil 2021, 230 Seiten, 29 Franken. stutz-medien.ch/seeuferwg