Vom linken Aktivisten zum Gestapo-Spion: eine Geschichte aus dem Saarland.
Die Saarabstimmung im Januar 1935 war die erste katastrophale Niederlage der deutschen Linken nach dem Machtantritt der Nazis von 1933. Trotz grossem Einsatz nicht nur der Linksparteien, sondern auch vieler Kulturschaffender stimmten weniger als 10 Prozent für den Status quo, gemäss dem das zwischen Deutschland und Frankreich umstrittene Saargebiet dem Völkerbund unterstellt bleiben sollte. Über 90 Prozent erlagen dem rechtskonservativen und nazistischen Slogan «Heim ins Reich».
Die Geschichte des Saargebiets im 20. Jahrhundert ist Hintergrund für das Buch von Tanya Lieske «Spion wider Willen». Darin geht sie der Geschichte von Gustav Regitz (1913–1988) nach. Der lebte ein prekäres Leben. Zwischen 1937 und 1951 sass er in acht verschiedenen Gefängnissen und KZ´s. Als Linker 1937 erstmals verhaftet, wurde er zum Gestapo-Spitzel, dann in Paris interniert, kam als Kriegsgefangener nach England, wurde nach dem Krieg im Saarland angeklagt, doch schliesslich «entnazifiziert».
Aus Dachau
Lieskes Buch ist drei Viertel zeitgenössische Recherche und ein Viertel fiktive Vergegenwärtigung. Der 1913 in Neunkirchen geborene Regitz begann in jungen Jahren als aufstrebender Kader in der Sozialistischen Arbeiterjugend, dann in der SPD. Nach dem Anschluss des Saargebiets an Nazideutschland wurde die Lage auch im Saarland für die Linken gefährlich. Regitz wechselte seinen Wohnsitz zwischen Frankreich und Deutschland, wurde aber schliesslich im März 1937 in Saarbrücken verhaftet und nach Dachau überstellt. «Aus Dachau kam Gustav Regitz an Leib und Seele beschädigt zurück», urteilt Lieske. Tatsächlich legt er wenig später im Gestapo-Gefängnis in Berlin ein «Geständnis» über seine «volksschädlichen» Tätigkeiten ab. Er liefert erste Informationen zu prominenten Linken des Saarlands und figuriert ab Februar 1938 als V-Mann «S.19». Bis Ende 1941 spioniert er vor allem die deutsche Exilszene in Paris aus.
Regitz hat später bestritten oder zumindest verharmlost, dass er als Spitzel gearbeitet habe, und Lieske macht gelegentlich Einschränkungen, wenn sich trotz aller Recherchen nicht ganz sicher belegen lässt, was er genau gemacht und welche Informationen er an die Nazis geliefert hat. Der Grundtatbestand aber steht ausser Zweifel.
1938 lebt Regitz vorerst noch eine bürgerliche Existenz, wohnt bei den Eltern in Wellesweiler in Neunkirchen. Nach einer «Geschäftsreise» bringt er aus Luxemburg die Postanschriften von 34 europäischen Büros der Kommunistischen Partei mit, gibt als Spitzel aber zunehmend auch Details über einst befreundete GenossInnen preis. Im Mai 1939 bekommt er auf eigenes Drängen hin den Auftrag, die Exilszene, insbesondere die sozialdemokratische, in Paris auszuspionieren. Dank seiner früheren linken Kontakte hat er bald Zutritt zum Zentrum des Exil-Widerstands, und seine Auftraggeber zeigen sich von der Qualität seiner Informationen angetan.
Doch mit Kriegsbeginn wird er wie viele Deutsche in Frankreich interniert, dann zum Strassenbau abkommandiert. Mit der Eroberung von Paris durch die deutschen Truppen im Mai 1940 kommt er frei, wird von der deutschen Gendarmerie aufgegriffen und im Juli 1940 erneut als Nazi-Spitzel verpflichtet. Ende 1941 kehrt er ins Saarland zurück, zieht kurzfristig nach Frankfurt, wird Anfang 1944 doch noch an die Westfront eingezogen, desertiert sogleich und verbringt zwei Jahre in einem englischen Kriegsgefangenenlager. Anfang 1947 freigelassen und nach Deutschland zurückgekehrt, wird er von den französischen Behörden überprüft; danach wird er aufgrund der Beschuldigungen einer ehemaligen Genossin vor ein westdeutsches Gericht gestellt, doch 1951 freigesprochen. Schliesslich lebt er in Saarbrücken, weitgehend geächtet und zunehmend verbittert bis zu seinem nur von wenigen Menschen betrauerten Tod 1988.
Ein anderes Leben
Lieske hat dieses Schicksal ausführlich recherchiert. Sie stützt sich auf mündliche Überlieferungen und hat umfangreiche Gestapo-Dossiers und Prozessakten eingesehen. Gelegentlich werden zudem literarische Verarbeitungen etwa von Anna Seghers oder Gustav Regler zitiert. Über Regitz hinaus evoziert das Buch die Lage im politisch gespaltenen Saargebiet, danach im Office Sarrois der exilierten SPD im französischen Forbach und noch später in den Exilzirkeln in Paris. So werden andere Personen der Zeitgeschichte vergegenwärtigt, insbesondere der saarländische SPD-Politiker Max Braun, der sich schon Anfang der dreissiger Jahre für eine Politik einsetzte, die die unselige Spaltung der Linken überwinden sollte. Oder die kommunistische Aktivistin Lore Wolf, die vermutlich aufgrund der Denunziation von Regitz verhaftet wurde und nur knapp dem Tod in Bergen-Belsen entkam; sie strengt 1950 den Prozess gegen Regitz an.
Verknüpft ist dieses Leben vor allem mit Gustavs langjähriger Partnerin und Ehefrau Margarete. Sie ist die mündliche Hauptquelle der Geschichte, und deren zweite Protagonistin. Margarete und Gustav: Das ist eine frühe Liebesgeschichte. 1932 brennen die beiden Nachbarskinder, 19- beziehungsweise 17-jährig, nach Frankreich durch, werden aber bald aufgegriffen und nach Neunkirchen zurückgebracht. Paris bleibt danach Sehnsuchts- und Fluchtpunkt. 1935 emigriert Margarete mit Schwester und Schwager nach Südwestfrankreich; Gustav bleibt vorerst, noch immer politisch links engagiert, nahe der französisch-deutschen Grenze. 1938 treffen sie sich in Lourdes, bald wird Margarete schwanger, fährt ins heimatliche Saargebiet zurück. «‹Das Kind habe ich auf eigene Kunst abgetrieben.› Sie sagt dies nüchtern, ohne Reue, auch ohne Schrecken», notiert die Berichterstatterin. Im Mai 39 heiraten Margarete und Gustav, dann fahren sie zusammen nach Paris. Weiss sie, was er seit 1937 treibt? Weiss er es selbst immer ganz genau? Jedenfalls ist es ein provisorisches Leben: «Sie und Gustav erlebten immer nur den einen Tag, sie verboten sich jede Mutmassung darüber, was am nächsten Tag folgen würde. Sie waren jederzeit auf ein abruptes Ende ihres jetzigen Zustandes vorbereitet. Verliessen sie das Hotel, so nahmen sie alle ihre Habe mit sich.» Später wird sich Margarete, ohne Gustav, hochschwanger, auf der Flucht ins Saarland durchschlagen, ständig in Gefahr der Verhaftung oder gewalttätiger Übergriffe.
In ihrer plastisch veranschaulichten Prekarität ist dies ein «weibliches» Leben, wie die Autorin schreibt. Gleichzeitig entwickelt Margarete dabei eine lebenspraktische Unerschrockenheit und Selbstständigkeit, die sich später als Nonkonformismus äussert: «Margaretes Auftritt ist eine Auflehnung gegen das Schattendasein, welches den Frauen ihrer Generation verordnet wurde», kommentiert Lieske.
Gewissensfragen
Durch Margarete Regitz ist die Autorin Tanya Lieske selbst in die Geschichte verknüpft. Denn Margarete ist ihre Grosstante. 2003 beginnt Lieske, mit ihr Gespräche zu führen und aufzuzeichnen, um dem, was sie andeutungsweise als Familiengerüchte gehört hat, eine verbindliche Form zu geben.
Lieske legt jederzeit offen, dass manche Szenen imaginierte Vergegenwärtigungen sind. Das ist ein legitimes Erzählmittel, um Lücken aufzufüllen und Entscheidungssituationen zu verdeutlichen. Gelegentlich allerdings geht es, wie bei diesem Stilmittel nicht ganz unüblich, ein wenig zu weit, etwa wenn Anna Seghers im Pariser Exil auf einer Hoteltreppe steht und sich, als das ihr unbekannte Ehepaar Regitz an ihr vorbeigeht, eine «Strähne aus dem ergrauenden Haar» streicht und «verbindlich» lächelt. Zumeist aber sind die Szenen plausibel und sorgfältig gebaut.
Blieb Gustav Regitz keine Wahl? Lieske schwankt ein wenig, was sie vom Ehemann ihrer Grosstante halten soll. Einmal nennt sie ihn einen nüchternen Skeptiker, der sich in schwierigen Zeiten durchgeschlängelt habe. An anderer Stelle ist dieser Skeptizismus als arrogant und zynisch deutlich negativer abqualifiziert. Gelegentlich meint sie, Gustav habe wohl zunehmend Gefallen an seiner Tätigkeit gefunden, da diese seine Intelligenz und Schläue herausgefordert hätten, so wie beim Schachspiel; ja, sie spricht von seiner «wachsenden Begeisterung» für die Spitzeltätigkeit. Regitz selbst berief sich im Nachkriegsverfahren auf seine antifaschistische Vergangenheit, meinte, er habe Lore Wolf nicht etwa verraten, sondern vor einer baldigen Verhaftung gewarnt, und wollte auch ansonsten wenig gewusst und getan haben. Schliesslich imaginiert sich Lieske, was er grundsätzlich zu seiner Verteidigung gesagt haben könnte, indem er sein besonderes «Betriebsgeheimnis» verrät: «Ich habe den Kommunisten gesagt, was ich der Gestapo sage. Ich habe der Gestapo gesagt, was ich den Kommunisten sage. Open door policy sagt man dazu heute. Ich war nur der Bote. Wenn die Gestapo zugreifen wollte, waren die Kommunisten schon weg.» Auf Nachfragen zu konkreten Fällen wie dem von Lore Wolf verweigert dieser fiktive Angeklagte freilich wie im US-Gerichtsdrama jeden Kommentar.
Mag sein, dass der wirkliche Gustav Regitz den Nazis nicht alles verriet, was er wusste. Aber was er verriet, war offensichtlich schwerwiegend genug. Deshalb scheint mir der Buchtitel nicht ganz zutreffend. «Spion wider Willen» – zweifellos, die ursprüngliche Zwangslage in Dachau war lebensgefährlich. Aber danach scheint dieser Spitzel manches nicht so ganz widerwillig mitgemacht zu haben.
War Margarete in die Spitzeltätigkeit von Gustav eingeweiht? Das ist die zweite Frage, um die sich das Buch dreht. Margarete will nichts davon wissen, dass ihr Gustav ein Verräter gewesen sei, oder vielleicht will sie auch nichts darüber wissen, wie Lieske formuliert: «Entweder hat Margarete ihr Leben auf einer Wahrheit aufgebaut, die nur sie kannte, oder auf einer Lebenslüge, die auch nur sie kannte.»
Lebenskraft und Schwermut
Auch nach dem Ende des Naziregimes sind diese gravierenden Entscheidungssituationen in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts verhängt. Da ist etwa die Begründung des Freispruchs für Regitz im Jahr 1951. Das Nazi-Regime könne, auch als verbrecherisches, durchaus ein legitimes Interesse an der Verfolgung «hochverräterischer Tätigkeit im Sinne der damaligen deutschen Gesetzgebung» geltend machen, meinen die westdeutschen Richter. Deshalb könne die «Denunzierung eines wegen hochverräterischer Handlungen Verfolgten nicht ohne weiteres als Menschlichkeitsverbrechen angesehen werden». Auf der andern Seite hat die Stasi die Akten der Gestapo übernommen, verwertet sie für ihre eigenen Zwecke und lässt sich in ihren Mitteln der flächendeckenden Überwachung durchaus von den Nazis inspirieren.
Kurz vor Drucklegung ihres Buchs ist eine der Personen, die Lieske bislang nur gesichtslos aus Akten kannte, identifiziert worden: der Führungsoffizier von Regitz, Bruno Sattler. Der war nach seiner Tätigkeit in der Nachrichtenabteilung 1941 in der Nazi-Hierarchie weiter aufgestiegen und schliesslich in Belgrad verantwortlich für den Mord an 8000 Menschen. Nach dem Krieg wurde er in der DDR zu lebenslänglicher Haft verurteilt und starb 1972 im Gefängnis. 2008 veröffentlichte Sattlers Tochter Beate Niemann eine schmerzhafte «Biografie meines Vaters als Täter». Seither hat eine Studie von Siegfried Grundmann minutiös die von Bruno Sattler geführten 24 V-Männer und drei V-Frauen beschrieben.
In einer Coda reist die Autorin mit ihrer Grosstante nach Paris, um dortigen Spuren nachzugehen. Da geht die Rekonstruktion endgültig übers sachlich historische Interesse hinaus. Das Verhältnis zwischen den beiden Frauen ist nicht spannungsfrei, weil die Nachgeborene jenseits und womöglich auch entgegen der Aussagen von Margarete historische Wahrheiten rekonstruieren und moralische Fragen stellen will. «Meine Tätigkeit war der Spitzeltätigkeit des Gustav Regitz verwandt», meint Lieske. Nun ist jede biografische Arbeit eine detektivische Spurensuche, die den Betroffenen gelegentlich als Infragestellen der eigenen Wahrheiten erscheinen mag – dennoch dünkt mich der Vergleich zu weitgehend.
Eine zweite persönliche Beziehung wird knapp angerissen. Margaretes Schwester Louise, Lieskes Grossmutter, hat eine ganz andere Geschichte als diejenige von Margarete. Sie hatte sich mit ihrem Mann schon 1935 aus dem Saarland nach Frankreich abgesetzt, in Montauban in Südwestfrankreich gelebt, dabei durchaus den Widerstand gegen die nazistische Besetzung unterstützt. Während ihr Mann sich in Frankreich assimiliert hatte, wollte sie nach dem Krieg ins Saarland zurückkehren, wo sie bald an Tuberkulose starb. Der anpackenden Art ihrer Schwester kontrastiert die Schwermut von Louise. Dieses Erbe wiederum spürt die Autorin Tanya Lieske gelegentlich auf ihren Schultern, oder auf ihrer Seele.
So werden in dieser eindrücklichen historischen Spurensuche nicht nur Mittel und Standpunkt der recherchierenden Beobachterin reflektiert, sondern diese sieht sich auch durch die rekonstruierte Geschichte plötzlich im eigenen Leben berührt.
Stefan Howald
Tanya Lieske: «Spion wider Willen». Droste Verlag, Düsseldorf 2009. 176 Seiten.
Das Buch steht in der Politisch-philosophischen Bibliothek im bücherraum f in der Abteilung DE.31 – Deutscher Faschismus