Denke global, grabe lokal. Da finden sich ungeahnte Schätze. Vielleicht ist es ein Gegenstück zu den düsteren Weltläufen. Aber bekanntlich hat schon ein aufklärerischer Philosoph die Arbeit im eigenen Garten nobilitiert. Deshalb wandten wir uns vom bücherraum f aus wieder einmal dem nahe Liegenden zu und wanderten am Samstag, dem 19. Oktober durch Seebach. Ja, Seebach. Ein Zürcher Vorort, vom Arbeiterquartier zum Industrie- und Bildungshub (fast). Multikulti, oder Gentrifizierung?
Eine ansehnliche Schar, schubweise dem örtlichen ÖV entsprungen, startete bei idealem Wanderwetter jenseits des Katzenbachs. Also im ehemaligen Ausserdorf, ganz an der Nordgrenze zum Glatttal, einst im 12. Jahrhundert in einer Form, die sonst in grösseren Zusammenhängen bedeutsam ist, von der landbesitzenden Fraumünsterabtei in einer Art Innenkolonialisierung durch Bauern besiedelt, die das Land dem Sumpf abringen mussten.
Jetzt erheben sich dort genossenschaftliche Siedlungen, gleich nach 1945 gebaut, mittlerweile neu verdichtet oder im Begriff, verdichtet zu werden. Nicht weit davon das Gemeinschaftszentrum Seebach. Wo die erste ästhetische Besonderheit wartete, eine bifunktionale Installation: Im Herbst und Winter eine Version von Sol Lewitts berühmtem Kubus, Seebach angemessen aus handfesterem, handwerklichem Material geformt und ins Rechteck hochgezogen, zur Sonne, zur Freiheit (auch Freizeit); im Frühling und Sommer das Zürcher Wappentier, ein imposanter Löwe, geschaffen 1898 vom Bildhauer Urs Eggenschwyler, dessen Tierskulpturen zudem an anderer Stelle in Zürich wie in der übrigen Schweiz ihre Spuren hinterlassen haben.
Daneben inmitten einer grösseren Grünanlage, in den 1960er-Jahren neben dem durch Abwässer verkommenen Katzenbach durch Kanalisierung und Meliorierung abgewonnen, die Badeanstalt samt Kindheitsreminiszenzen eingeborener Seebacherinnen: Diese Rutschbahn. Dieses Planschen im geheizten Wasser. Dieses Nielenrauchen im Schatten eines dicken Baums (eine apokryphe Überlieferung). Bei der benachbarten Volière tauchte dann aus den unergründlichen Tiefen des Unbewussten eines Reiseführers plötzlich die Frauenbefreiungsbewegung auf.
Angemessen dazu war freilich der Fussballplatz Katzenbach, wo die SV Seebach Frauen ihren steilen Aufstieg begonnen hatten. In ihren Reihen Nadja Poncioni, die als 15-Jährige mit dem Team an die zweite inoffizielle Fussballweltmeisterschaft in Taipeh/Taiwan gereist war, nachdem sie eine Verlängerung der Schulferien erreicht hatte. In den 1980er- und 1990er-Jahren wurde sie mit den Seebacher Seriensiegerinnen nicht weniger als elfmal Schweizer Meisterin, als Goalgetterin nach eigener Aussage im Stil von Gerd Müller erzielte sie im Durchschnitt über ein Tor pro Spiel.
Seebach hat, wie andere Vorortsgemeinden mit ihren sozialen Verwerfungen, eine Tradition sozial engagierter Pfarrer – in jüngster Zeit auch Pfarrerinnen. Da ist beispielhaft Paul Vogt, während und nach dem Zweiten Weltkrieg unermüdlich tätig in der Flüchtlingsbetreuung, oder 1984 das Kirchenasyl für chilenische Geflüchtete. Dagegen ist das aktuelle Asyldurchgangsheim, im Norden versteckt, nicht gerade ein Ruhmesstück, und es ist wiederum die Kirche, diesmal von der katholischen Gemeinde Maria Lourdes aus, die soziale Betreuung leistet.
Seebach weist etliche Wohnbaugenossenschaften auf, doch ist deren Anteil am Wohnraum stadtweit gesehen eher unterdurchschnittlich, weil viele Häuser in kleingewerblichem Besitz waren und dann durch grössere Unternehmen aufgekauft worden sind. Eine markante Überbauung ist allerdings die der Baugenossenschaft Glatttal Zürich an der Katzenbachstrasse, nach längeren, bei solchen auch schmerzhaften Modernisierungsprojekten üblichen basisdemokratischen Diskussionen nach neustem Standard renoviert; nur die Strasse selbst ist, laut zweifellos gut unterrichteten und zuverlässigen Quellen seit einem Jahr in Reparatur, so schäbig abgesperrt, mit Schlaglöchern bis in die weiterhin zu befahrende Strassenhälfte hinein, wie es sich die – doch links-grüne! – Stadtregierung in andern Quartieren nie erlauben würde! Jedenfalls, im benachbarten grosszügig gestalteten Rastplatz liessen sich die Brezeln von einer hier nicht genannten lokalen Verkaufsstelle verzehren; zum gelinden Erstaunen des Traiteurs waren schon bald alle 29 Brezeln verschwunden, obwohl sich einem fotografischen Dokument entnehmen lässt, dass eine der wiederum anonym bleibenden Teilnehmer(innen) sich mit einem selbst mitgebrachten Brot begnügte – oder, als nachträglicher Gedanke, nach dem Brot auch noch zu einer Brezel gegriffen hatte.
Am Ende der Strasse beginnt, mit der Tramendstation Seebach, das eigentliche Innendorf. Wobei solche Unterscheidungen längst hinfällig sind. Hat im Übrigen nicht Theodor W. Adorno vor längerer Zeit den Jargon der Eigentlichkeit seziert? Item, hier ballt sich Geschichte, mit dem Kriminaltango, dem Seebacher Tiergarten samt dem bei einem Zusammenstoss mit einem Schnellzug vom Bahndamm geschleuderten Elefanten Tantor, der doch die Menschen mit seinen Apfeldiebstählen und listigen Aufenthalten auf dem Tramgeleise erfreut hatte. Dokumentieren liessen sich auch die einstigen Machenschaften des Eisenbahnbarons Alfred Escher gegen Konkurrenzunternehmen im Tram- und Bahnverkehr. Über die aktuelle städtebauliche Situation bei der Grossüberbauung Grubenacker / Thurgauerstrasse orientierte danach aus erster Hand Christian H., Anwohner und Aktivist. Gleich daneben, vermutlich, jener Ort, wo 1918 laut Zürcher Geheimdienst Sprengstoff für den Landesstreik durch einen obskuren anarchistischen Zirkel gelagert worden war, der sich später als staatliche Schimäre erwies, die aber als Kettenglied von der militärischen Besetzung Zürichs zum Landesstreik geführt hatte.
Um die Ecke liessen sich dann in der Friesstrasse Düfte der originalen exotischen Seebacher Zigaretten der Firma Turmac erahnen, im Zeichen neuerer multikultureller Entwicklungen abgelöst durch den blauen oder andersfarbigen Dunst aus etlichen Shisha-Bars. Zu jüngsten Umbrüchen in Seebach gehört auch der Zusammenhang zwischen der Ansiedlung von IT-Abteilungen der Finanz- und Versicherungsindustrie, der Umwandlung von Familienwohnungen in Apartments und dem Aufblühen indischer Restaurants.
Angesichts der doch etwas vorgerückten Zeit wurde der Rundgang kurzerhand abgekürzt und in den bücherraum f umgeleitet, wo er dann, bei Kaffee und Pralinen aus der überregionalen Confiserie, ohne direkten Augenschein der, freilich lebhaft beschriebenen, Örtlichkeiten fortgesetzt wurde, über Niklaus Meienberg, Konsumvereine, Gewerkschaftsbüros und Stolpersteine. Und dann war schliesslich doch Schluss. Fortsetzung folgt, vielleicht.
Eine Broschüre mit Informationen zu allen neunzehn Stationen lässt sich für eine Schutzgebühr von 6 Franken (plus p&p) beim bücherraum beziehen.