Zweimal musste der Philosoph Ernst Bloch ins Schweizer Exil, 1917/18 und 1933/34. Schon zuvor hatte es Anknüpfungspunkte zur Schweiz gegeben, und subkutan lassen sich Ausläufer in seiner Philosophie feststellen. Beat Dietschy, in den siebziger Jahren letzter persönlicher Mitarbeiter Blochs in Tübingen, referierte darüber ebenso unterhaltsam wie kenntnisreich am 11. Februar im bücherraum f.
Dietschy hatte den ihm eher spielerisch vorgesetzten Titel «Die Geburt der Utopie aus dem Geist der Alpen» zum Anlass für eine weit reichende Recherche zur Beziehung von Ernst Bloch zur Schweiz sowohl in lebensgeschichtlichen Anekdoten wie in der philosophischen Auseinandersetzung mit dem ‹Prinzip Schweiz› genommen. Ausgebildeter Theologe und Philosoph, ist Dietschy lange Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit und als Journalist tätig gewesen, in produktiver Verbindung von Theorie und Praxis. Acht Bücher von ihm verfasst oder mit Beiträgen von ihm finden sich im bücherraum f, seine Dissertation «Gebrochene Gegenwart» zu Bloch, Artikel im «Vorschein», den Jahrbüchern der Ernst-Bloch-Assoziation, ebenso wie das von ihm mit herausgegebene magistrale «Bloch-Wörterbuch». Auch das andere Interessens- und Arbeitsgebiet der kritischen Theologie ist vertreten: «Ist unser Gott auch euer Gott?» mit vielen Gesprächen über Kolonialismus und Befreiung und der zusammen mit Annette Dietschy herausgegebene Band «Kein Raum für Gnade? Weltwirtschaft und christlicher Glaube», der Impulse aus vier Kontinenten versammelt. Das Werk von Ernst Bloch selbst darf unter dem Stichwort Kritischer Marxismus durchaus als ein Schwerpunkt der Politisch-philosophischen Bibliothek f gelten – von ihm finden sich nicht weniger als 110 Laufzentimeter sowie 35 Zentimeter Sekundärliteratur. Stöbern lohnt sich.
Der früh selbstbewusst in sich ruhende und zugleich umfassend neugierig auf die Welt zugehende Bloch war, wie Dietschy belegte, jeweils schnell in ein vielfältiges Beziehungsgeflecht eingebunden. Ab 1917, in Bern, Thun und Interlaken ansässig, schrieb er für «Die Freie Zeitung» unter Pseudonym über hundert Artikel. Die zweimal in der Woche in Bern erscheinende Zeitung mit dem Untertitel «Unabhängiges Organ für demokratische Politik» wurde publizistisch wesentlich vom Ex-Dadaisten Hugo Ball geprägt und setzte sich gegen den preussischen Militarismus und den Weltkrieg ein – unterstützt wurde sie übrigens vom pazifistischen Schokoladefabrikanten Theodor Tobler, so dass sich in vielen Ausgaben Inserate für die 1908 patentierte Toblerone finden. Bloch selbst erhielt zuweilen Geld durch den zum Kriegsgegner gewordenen ehemaligen Krupp-Direktor Wilhelm Muehlon, was ihm erlaubte, sein erstes grosses Werk «Geist der Utopie» zu beenden. 1918 befreundete sich Bloch mit dem ihm in manchem wesenverwandten Walter Benjamin, der damals in Bern dissertierte. Freunde schlugen Bloch als Ehrenbürger von Interlaken vor, um so eine Einbürgerung zu erleichtern. Doch als in Deutschland die Novemberrevolution begann, sah er dazu keine Notwendigkeit mehr, da er hoffte, ein neues Zeitalter breche an, wenn sich andere Länder die Schweiz als Bundesgenossenschaft als ein Vorbild nähmen und so etwas wie eine Weltschweiz entstünde.
Dass ihm die Schweiz auch 1933 ein Asyl bot, hat er ihr nie vergessen, obwohl der zweite Aufenthalt bitter endete. Vorübergehend wohnte er mit seiner Frau Karola an der Zollikerstrasse in Tiefenbrunnen bei Hans Mühlestein, einer heftig glühenden Gestalt des Schweizer Kulturlebens, dessen «Grosser Schweizerischer Bauernkrieg» von 1942 in Einigem von Blochs «Thomas Müntzer als Theologe der Revolution» profitiert haben mag. Blochs «Erbschaft dieser Zeit» erschien 1935 in Zürich bei Hans Oprecht, als Bloch wegen seiner publizistischen Tätigkeit schon des Landes verwiesen worden und via Italien nach Wien gereist war. Im gleichen Jahr publizierte Mühlestein einen Roman «Aurora» (1935); knapp zehn Jahre später wurde unter dem Namen Aurora als Synonym für die politische Morgenröte in New York ein Exil-Verlag gegründet, in dem Bloch 1946 sein Buch «Freiheit und Ordnung» veröffentlichte.
Sichtbar wurde, gerade aus Dietschys persönlicher Kenntnis, Blochs imposante, zuweilen widersprüchliche Persönlichkeit. Den nie anwesenden, dennoch rettenden Augenblick mit seiner messianischen Verheissung suchte er durchaus auch in seinen Beziehungen zu Frauen. Dietschy warf denn auch Seitenblicke auf Blochs Ehefrauen, die Bildhauerin Else von Stritzky und Karola Bloch, née Piotrowska. Oder auch auf die etwa im Umkreis der «Neuen Wege» tätige Publizistin Margarete Susman. Da zeigte sich, leicht ironisch gesehen, eine gewisse behäbige patriarchale Selbstverständlichkeit. Zugleich war Bloch unendlich interessiert an Spuren des Ausbruchs, der Bewegung, des Aufbruchs. Diese Neugier stellte ihn 1968 entschieden an die Seite der antiautoritären Bewegung.
Dietschy vermochte die Anwesenden eine Stunde lang in Bann zu halten, gefolgt von Fragen und Interventionen, über Blochs Beziehung zu ausserdeutscher Philosophie, über das Verhältnis zur Sowjetunion, über Aktualität und Nachwirkung. Hübsch anekdotisch erläuterte er Blochs lässlichen Umgang mit Zitatquellen – ein apokrypher «Pseudoaristoteles» hat es sogar in den Ergänzungsband der Gesamtausgabe geschafft. Die
Aktualität sieht Dietschy etwa in der «Erbschaft dieser Zeit» als einer nicht ökonomistischen Faschismusstudie, mit Vorgriffen zur Analyse des Populismus in Alltag und Medien. Die Optik auf die konkrete Schweiz mag ein wenig nostalgisch gefärbt gewesen sein, aber Bloch hatte, wie Dietschy betonte, ein Gespür für das Genossenschaftliche, die Commons, das Gemeinwohl – da fand sich einiges utopisches, vorscheinendes Material in der Schweiz.
«Ernst Bloch hätte Freude gehabt an diesem Bücherraum», hat Beat Dietschy in unser Gästebuch geschrieben. Was uns natürlich freut.
sh