Der Soziologe schaut hin

«Und der Soziologe schaut natürlich wieder nicht hin.» So kommentierte eine Quartiersbewohnerin, als Ueli Mäder auf dem lokalen Bahnhof wortlos an Jugendlichen, die gerade milden Unfug trieben, vorbei auf den Zug eilte. Dafür redete er dann mit der Frau, nachdem die in denselben Zug eingestiegen war. Ja, der Soziologe findet es wichtig, zu reden. Persönlich, natürlich, aber auch beruflich und politisch. Gespräche liefern Alltagsmaterial für soziologische Studien, und wenn man das Feld nicht den politischen Opponenten überlässt, lernt man verstehen, was vorgeht.

Mäder ist einer der profiliertesten Soziologen der Schweiz; um seine Studien zu Reichtum und Macht und Armut kommt man nicht herum. Im bücherraum f finden sich rund zehn seiner Werke. Bei Mäders Besuch am 8. April türmten sich Bücher auf dem Lesetischchen, eigene und fremde, angefangen von der Dissertation zu «Gewaltfreie Revolution in Entwicklungsländern» (1984) über Tourismus als «Fluchthelfer» oder als sanfte Alternative und Frei-Zeit bis zu den Bänden über die CH.Macht, samt Originaltönen von Reichen und Armen.

«68 – was bleibt?», heisst Mäders jüngster Band, und von der eigenen bibliophilen Sozialisation her hatte er Bücher ausgewählt, die wichtige Themen anschnitten; dazu gesellte er jüngere Beispiele, denen sich aus einem kritischen Ansatz etwas abgewinnen lässt. Die Bücher stellte er unter fünf Stichworte: biografisch, literarisch, politologisch, soziologisch und perspektivisch. Seine Wahl und deren Verortung hat er in einem Papier nachgezeichnet, das sich hier nachlesen lässt: [Bücherraum. Ueli 8.4.2019] Er sprach dann weitgehend frei, theoretisch weit ausholend, mit vielen Anekdoten aus der reichhaltigen soziologischen Forschungspraxis. Dabei kam es schon bald zu Nachfragen, zu Interventionen und Gesprächen, denn: Reden ist wichtig.

Zum Auftakt veranschaulichte Mäder den biografischen Ansatz am Buch «Gegenleben» (2003) von Ina Boesch über Margarethe Hardegger (1882–1963), der ersten Arbeiterinnensekretärin im Schweizerischen Gewerkschaftsbund, später ungebärdige Syndikalistin und Lebensreformerin in einer Landkommune. Da zeigte sich eine bedeutsame Spur von Frauen in der Gewerkschaftsbewegung. Wozu aus dem Publikum beigesteuert wurde, dass Frauen als Sekretärinnen über viele Einsichten in das Funktionieren der Gewerkschaftsapparate verfügten. Umgekehrt hat ihre zuweilen als untergeordnet verstandene Tätigkeit weniger Zeugnisse als diejenige von Männern hinterlassen. Ina Boesch konnte noch Gespräche mit KollegInnen führen, die Hardegger noch gekannt hatten. Generell erläuterte Mäder, wie sich die Auswahl der GesprächspartnerInnen gezielt vorbereiten lässt, mit Vorabkategorisierung und zunehmender, laufender Erweiterung (oder Eingrenzung) der Fragestellungen. Ein wenig weiter ist die Gesellschaft seit Hardeggers Zeiten gekommen, wie er mit Blick auf neue Kader in den Gewerkschaften und den Frauenstreik anfügte.

Neben, oder sogar vor dem Wissenschaftlichen steht das Literarische. Etwa Peter Bichsel mit seinem Bändchen «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen» (1964), dessen knappe Sätze sich rhetorischen Floskeln und Ablenkungen verweigerten und auf alltagssoziologischen Betrachtungen beharrten. Die Kneipe als Ort der Vergesellschaftung ebenso wie der poetischen Imagination hat Bichsel zwar nicht erfunden, aber doch vervollkommnet.

Bei Jean-Paul Sartre ging es grundsätzlicher zu, ob und wie sich Menschen die Hände schmutzig machen beim politischen Handeln zwischen Ideologie, Verrat und Menschlichkeit.

Zeitlich näher liegend wurde eine Passage von Alex Capus zitiert, in dem dieser die PendlerInnen auf dem Oltener Bahnhof je nach Reiseziel einem vermuteten Beruf zuordnet und entsprechend charakterisiert. Worauf ein kleiner Einwurf erfolgte, das sei nun gerade nicht sehr aufschlussreich, sondern eher, hm, klischiert; worauf sich eine kleine Debatte entspannte, ob in solchen Typisierungen nicht doch eine Realität getroffen werde, zudem sei das doch vergnüglich satirisch gemeint; aber satirisch, wurde hinwiederum eingewandt, müsse ebenfalls erhellend sein – so blieb man sich freundlich uneinig.

Darin steckte auch die Frage, wie weit denn die Reduktion von Komplexität gehen dürfe und im Hintergrund – oder durchaus im Vordergrund – dräute das aktuelle Problem des Populismus mit seinen Vereinfachungen. Von anderer Seite wurde da Peter Weiss ins Feld geführt, der in seiner «Ästhetik des Widerstands» (1971-1981) politische Debatten dialektisch inszeniert.

Jedenfalls lässt sich bei Capus die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft und des Alltags ablesen. Mäder berichtete dazu aus dem Unialltag über Gelder, die er als Uniprofessor bekommen hat, um mit Exponenten einer bekannten Firma im Energiesektor Gespräche zu führen. Und wie man ihn, als er die Praxis dubios fand und das Geld weiterreichte, der Naivität zieh.

Was zur Politik hinführte. 68 ist natürlich nicht denkbar ohne Karl Marx. Aber wie tief ging die Beschäftigung damit und wie weit die Auseinandersetzung? Ob es da nicht doch etliche Vereinfachungen gegeben habe, stellte Mäder zur Debatte, und das Politische sich über Manches hinweggesetzt habe? Vielleicht, wurde von verschiedenen Teilnehmern eingeworfen, wurden solche Vereinseitigungen schon Mitte, Ende der siebziger Jahre aufgelöst, einerseits indem die politischen Bewegungen konkreter und handfester wurden; andererseits auf theoretischer Ebene durch das, was sich als kulturalistische Wende des Marxismus bezeichnen liesse, die mit dem Namen Antonio Gramsci verbunden ist.

An dieser Stelle wurden jene bislang halblauten Kommentare einer Besucherin lauter, der mal in der Kunstgewerbeschule von den 68ern die eigene Kunst madig gemacht worden war und die seither – oder zumindest gegenwärtig – alle – oder zumindest viele – Linke für Schwätzer hält, so dass der Vortragende, ihrer Meinung nach, die Kritik an diesen durchaus hätte verschärfen dürfen.

Als soziologische Marksteine erwähnte Mäder «Die Neue Unübersichtlichkeit» (1985) von Jürgen Habermas und die «Risikogesellschaft» (1986) von Ulrich Beck, der die Grosstechnologien als Gefahren analysierte, aber am Projekt der Aufklärung und einer neuen Moderne festhalten wollte, wogegen sich Marianne Gronemeyer in ihrer früheren Studie «Motivation und politisches Handeln» (1976) einiges skeptischer zeigte. Tatsächlich liesse sich wohl behaupten, dass die neoliberal forcierte Individualisierung im Fall der Social Media  zum Narzissmus tendiert – in Bezug auf diese Technologien erklärte sich Mäder für einmal geradezu zum Konservativen und, konsequent, als Verfechter des direkten Gesprächs.

Was perspektivisch bleiben könnte, skizzierte er mit kurzen Hinweisen auf die Bestrebungen von Bini Adamczak und Heinz Bude, die das Konzept der Solidarität und einer solidarischen Gesellschaft zu reaktivieren trachten. In einem Bogen zu früheren Ausführungen erwähnte er zudem die historische Aufarbeitung zeitgenössischer Politarbeit, etwa in einem Band, in dem ehemalige Mitglieder der RML/SAP zurückblicken. Sichtbar werde darin, wie einst zu wenig Selbstkritik vorhanden gewesen war und wie Demokratiefragen unterbewertet wurden. Da zeige sich immerhin, erfreulich, ein neues Element der Selbstreflexion, der Selbstkritik der Linken. Sichtbar werde allerdings auch, merkte eine Zuhörerin an, dass die Geschlechterfrage immer noch nicht bewältigt sei.

Dass viele Junge es erneut und anders ausfechten wollen, zeigt die Bewegung zum Klimanotstand. Das gibt doch Mut. So konnten die Anwesenden nach zwei Stunden mit positiven Stichworten abschliessen: offene Dialektik, eine neue Fehlerkultur, Wagnis zur Offenheit.

sh