«…dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte…»

Dritter Zürcher Büchner-Rundgang

Den 20. ging Lenz bekanntlich ins Gebirg. «… Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte.» Auch Georg Büchner wanderte gern. Hier wäre er vorbeigekommen, wenn er denn bei seiner Einreise in die Schweiz 1836 von Baden aus den Abstecher über die Lägern gemacht und via Oerlikon nach Zürich gelangt wäre.

Der Tannenhof, 1678 erbaut, ist eines der ältesten noch existierenden Gebäude in Zürich-Seebach. Gleich nebenan stand bis 1961 die ehemalige Binzmühle, und die wiederum, 1212 erbaut, versorgte sowohl Seebach wie Oerlikon mit Mehl.

Die Allmannstrasse 4 war die erste Station des Dritten Zürcher Büchner-Rundgangs 2018. Wegen Sturmwarnungen war er um eine Woche verschoben worden; so machten sich am 16. Dezember zwei Dutzend Afficionados vom bücherraum f an der Jungstrasse 9 bei etwas freundlicherem Wetter durch den frisch gefallenen Schnee auf und folgten den Spuren, die Georg Büchner in Oerlikon hinterlassen hat, direkt oder durch sein Angedenken. Denn dazu gab es Einiges zu sagen und einige Büchner-Texte vorzutragen.

Auf den Tannenhof hätte er am 19. Oktober 1836 einen flüchtigen Blick geworfen, wenn er denn die Kutsche von Strassburg via Basel in Baden verlassen hätte. Die Schnellverbindung zwischen Basel und Zürich war erst vor einigen Jahren eingerichtet worden. Bis 1830 gab es von Zürich aus nur gemächliche Postwagen nach Schaffhausen, Konstanz und St. Gallen. Doch, berichtete Friedrich Vogel 1841 in seinem Neuen Orts-Lexikon des Kantons Zürich in stolzem Fortschrittsoptimismus: «In wenigen Administrationszweigen sind in den letzten Jahren, sowohl in der Schweiz im Allgemeinen, als ganz besonders im Canton Zürich, so bedeutende Fortschritte gemacht worden, als in demjenigen des Postwesens.» 1830 einigten sich die Postverwaltungen von Aargau, Basel und Zürich auf die Einrichtung eines Eilwagens zwischen Basel und Zürich, der «ebenso sehr die Freude als die Zweifel des Publikums erregte, ob ein solches Unternehmen Bestand haben werde». Es hatte. 1834 folgte ein Eilwagen zwischen Zürich und St. Gallen sowie normale Postwagen den beiden Seeufern entlang bis Rapperswil beziehungsweise Richterswil. 1835 wurden eine tägliche Diligence zwischen Zürich und Luzern sowie tägliche Eilwagenkurse nach Schaffhausen und dann nach Bern eingerichtet; im Jahr darauf folgten Kurse innerhalb der Kantonsgrenzen zwei mal in der Woche nach Wald über die Forch, nach Hinwil via Uster und nach Bauma über Fehraltorf.

Entsprechend stiegen die Zahlen der Reisenden. 1832 waren von Zürich aus 12’000 Personen befördert worden, 1836 waren es bereits 39’848; entsprechend hatten sich auch die Einnahmen und Staatsabgaben bedeutend vermehrt. Für das Jahr 1839 zählt Vogel dann fünfzehn tägliche Kurse auf, dazu vier weitere Kurse mindestens dreimal in der Woche, mit insgesamt 59’363 Reisenden.

Und so hätte Büchner auf der Lägern kurz geruht, bevor er über Dielsdorf – damals ein Bauerndorf mit immerhin 640 zumeist in der Landwirtschaft tätigen BewohnerInnen, aber auch mit einer Mühle, einer Reibe, einer Schleife, einer Schmiede, einer Metzg und einer Taverne – nach Oerlikon gekommen wäre. Jedenfalls beschrieb er die ersten Eindrücke der Schweiz in scharfem Kontrast zu den verrotteten Zuständen in der Heimat. «Die Schweiz ist eine Republik», bestätigte er den Eltern in einem Brief, und trotzdem (oder vielleicht deswegen) sei nichts von «Anarchie, Mord und Totschlag» zu spüren, wie es den «guten Deutschen» weisgemacht werde, im Gegenteil.

Beim Rundgang wurden solche Erläuterungen und Texte von Armin Büttner, Stefan Howald und Adrian Riklin kundig ergänzt durch lokalhistorische und kulturelle Informationen, etwa über H. R. Gigers phantastisches Atelier an der Grubenackerstrasse.

Nach der Binzmühle ging es beispielsweise zum städtebaulich noch etwas verloren wirkenden Max-Frisch-Platz in Neu-Oerlikon. Frisch hatte 1958 als erster nicht-deutscher Schriftsteller den renommierten Büchner-Preis erhalten und in seiner Preisrede in auch heute noch aktuellen Gedanken über Heimat, Exil und Nationalismus räsonniert. Nicht weit davon entfernt bot der etwas grandiosere Max-Bill-Platz Gelegenheit, sich dessen geplantes Büchner-Denkmal in Darmstadt zu vergegenwärtigen sowie die Gründe, warum es nicht zustande kam.

Am MFO-Park wurde die feudale Rückständigkeit in Hessen mit der Industrialisierung in Zürich-Oerlikon kontrastiert. Ein Thema waren auch die Frauen um und mit Georg Büchner. Etwa die Schwester Luise Büchner (1821–1877), eine bekannte Bildungsreformerin und Frauenrechtlerin, die 1875 anlässlich der Einweihung der Büchner-Gedenkstätte beim Rigiblick nach Zürich reiste und danach bemerkenswerte Einblicke in die hiesigen Bestrebungen zur Mädchen- und Frauenbildung vermittelte.

Es gab so viel zu sagen und zu zeigen, dass nicht alles zur Sprache kommen konnte. Deshalb wird ein weiterer Rundgang geplant, bei milderen Temperaturen. Einige Informationen sind gesammelt im dritten Zürcher Büchner-Brevier, das über diese Website oder diejenige des bücherraums f unter www.buecherraumf.ch zu beziehen ist.