Bergstürze und Denkmalstürze

Soll das Denkmal von Alfred Escher beim Hauptbahnhof Zürich gestürzt werden, weil die Familie Escher eine Plantage mit SklavInnen besass? Müssen die Gebäude und Institutionen in Neuenburg, die aus dem Erbe von Bankier David de Pury gebaut worden sind, geschleift werden, weil der sein Geld unter anderm mit Sklavenhandel verdient hatte? Der St. Galler Historiker und postkoloniale Aktivist Hans Fässler bemüht sich seit vielen Jahren darum, dass sich die Schweiz ihrer Verwicklung in den globalen Kolonialismus bewusst stellt. Er hat verschiedene Kampagnen zur Umbenennung öffentlicher Orte und Plätze lanciert. Im Zeichen von Black Lives Matter hat das Thema eine erneute Dringlichkeit erhalten.

Im bücherraum f hat Hans Fässler am Donnerstag, den 10. September, von seinen Erfahrungen berichtet und kreative Vorschläge erläutert. Fässler identifizierte zuerst drei Formen von Erinnerungsstätten und erläuterte diese an einzelnen Beispielen. Da sind gezielte, gewollte Erinnerungsorte: Denkmäler, Strassennamen, Bergspitzen, von Edward Colston und Alfred Escher über den Raiffeisen-Platz und die Lavaterstrasse bis zum Agassizhorn. Dann gibt es ungewollte Erinnerungsorte, etwa wenn ein Hausname plötzlich fragwürdige Verbindungen offenbart: So das «Haus zur Flasche» in St. Gallen der Familie Högger, die verschiedene Plantagen mit SklavInnen besass, oder das zu einem klassizistischen Prachtbau umgebaute ehemalige Bauernhaus der Familie Pool in Bevers, die ihren Reichtum ebenfalls durch Plantagen anhäufte. Schliesslich die noch zu schaffenden Erinnerungsorte, Gegen-Denkmäler, mit denen alternative Personen, Bewegungen gewürdigt werden sollen: Paul Grüninger ist da ein prominentes Beispiel oder die von Fässler hartnäckig verfolgte Umbenennung des Agassizhorns in Rentyhorn.

Wenn gegenwärtig zum Beispiel von Schreibern in der NZZ die Gefahr einer illiberalen Zensur beschworen werde, so wende er dagegen jeweils den Empörungstest an: Ob der Sturz einer Statue empörender sei als das Unrecht, das einst begangen worden sei und an das mit dem Denkmalsturz erinnert werden solle? Sein Vortrag lässt sich hier nachhören:

Fässler erläuterte dies an zahlreichen Bildern. Dabei müssen Denkmäler für Fässler nicht immer entfernt und Strassennamen nicht immer ausradiert werden. Mit Detailkenntnis und Witz zeigte er verschiedene Alternativen: Erläuterungstafeln zu Agassiz in Lausanne, in Schieflage versetzte Statuen, Dokumentationen öffentlicher Auseinandersetzungen, etwa wenn der alte Name einer Strasse durchgestrichen neben dem neuen steht. Die Beispiele lassen sich hier nachhören:

Die Beispiele lassen sich hier anschauen, wobei der mündliche und bebilderte Vortrag und die Dokumentation nicht ganz übereinstimmen. buecherraum_Fässler_pod

In der lebhaften Diskussion wurde angemahnt, warum bei Gegen-Erinnerungen zumeist wiederum nur Männer gewürdigt werden und nicht auch die Frauen oder die Netzwerke, die sie unterstützt haben. Dass solche Politik um Symbole mit anderen politischen Bewegungen verbunden werden sollte, blieb unbestritten, zumal, wie angemerkt wurde, es dabei immer auch um die Zurückeroberung des öffentlichen Raums gehe.

Zentral bleibt die Diskussion um den historischen Horizont und die historische Relativierung: Konnten die Zeitgenossen um das Unrecht der Sklaverei wissen? Fässler wies darauf hin, dass die Sklaven immer schon wussten, dass Verbrechen an ihnen begangen wurden; mindestens seit dem Ende des 17. Jahrhunderts gab es kritische Stimmen in den Kolonialländern, Ende des 18. Jahrhunderts waren sie unüberhörbar und wurden auf dem Wiener Kongress 1815 erstmals kodifiziert. Allerdings, wurde angemerkt, seien wohl Unterschiede der unmittelbaren Verantwortlichkeit festzuhalten – da alle Menschen im Norden vom globalen Sklavenhandel profitiert hatten, würde andernfalls jedes kritische Sprechen aus diesen Ländern verunmöglicht. Und prospektiv stellt sich die Frage, wie weit heutige Verantwortung etwa für den Klimanotstand beurteilt werden könnte.

Die Diskussion mündete ins Thema von Wiedergutmachung und Reparation. Reparationen sind ja, anders als von denen behauptet, die sich dagegen sperren, nichts Neues, gerade auch in Bezug auf die Sklaverei. Skandalöserweise wurden nach dem Verbot der Sklaverei nicht etwa die SklavInnen, sondern die ehemaligen Plantagenbesitzer und Sklavenhändler entschädigt, was die Republik Haiti beinahe hundertfünfzig Jahre lang belastet hat. Natürlich ist, so Fässler, jede Reparationsforderung komplex: wer, warum, wieviel an wen zu zahlen habe. Aber das Argument der Komplexität sei zumeist nur vorgeschoben. Fässler hat dazu im letzten Dezember Scores, das Schweizerische Komitee für die Wiedergutmachung der Sklaverei, initiiert. Dieses arbeitet mit der Reparationsinitiative der karibischen Staatengemeinschaft zusammen, wie Fässler soeben in der jüngsten WOZ Nr. 37 erläutert, siehe https://www.woz.ch/2037/schweizer-wiedergutmachung/die-damaligen-argumente-klingen-sehr-vertraut.

Siehe auch Hans Fässlers Website www.louverture.ch.