Der Opportunismus der Allegorie

bücherräumereien (XXXII)

Die Allegorie ist defizitär. Die Haltung elitär. Und das Kunstwerk ein tönerner Koloss: Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen

Die Anekdote war zu gut, um nicht wahr zu sein: Der schottische Schriftsteller Stuart Hood hatte mir erzählt, er sei als britischer Nachrichtenoffizier nach dem Kriegsende in Deutschland im requirierten Haus eines Arztes auf das von Ernst Jünger 1939 verfasste Buch Auf den Marmorklippen gestossen, habe den unter alliiertem Hausarrest stehenden Jünger besucht und ein Kapitel aus dessen Buch für die Arbeit in der Entnazifizierung ins Englische übertragen, weil es Einblicke ins faschistische Denken geboten habe. Später übersetzte er das ganze Buch ins Englische und meinte dazu: «Es gibt gewisse rechtsgerichtete Autoren, wie Louis-Ferdinand Céline oder eben auch Jünger, die einem, trotz politisch entgegengesetzter Positionen, zuweilen neue Einsichten ermöglichen.» Ich hatte dieses Urteil staunend und beeindruckt entgegengenommen, ohne mir Jüngers Buch zu Gemüte führen zu wollen. Aber es steht in einer frühen Nachkriegsausgabe im bücherraum f, also habe ich es kürzlich zu lesen begonnen.

Und bin frappiert. Es fängt damit an, dass der Ich-Erzähler, im wehmütigen Rückblick, ein Idyll in der Rauten-Klause am Rande der Marmorklippen beschreibt, oberhalb der grossen, lieblichen Marina, angrenzend an Mauretanien. Es hat für den Ich-Erzähler eine kriegerische Vergangenheit gegeben, da er mit seinem Bruder Otho in den Reihen der mauretanischen Purpur-Ritter gegen Alta Plana gezogen war; aber diese Zeit ist abgetan. Jetzt ist alles Pflanzenstudium und Pflege eines grossen Herbariums, umgeben von Erio, dem Sohn des Ich-Erzählers, betreut von der alten Lampusa, Erios Grossmutter (Mutter Silvia ist in Alta Plana zurückgeblieben) und in vertrautem Einverständnis mit allerlei Getier, vor allem den wilden Lanzenottern, die Erio sanft gehorchen. So weit, so befremdlich aus der Zeit gefallen. Geschrieben in einem Stil, der altväterisch raunt und tiefgründig verkündet.

Dann, auf Seite 31, taucht der Oberförster auf. «Er zählte zu den Gestalten, die bei den Mauretaniern zugleich als grosse Herren angesehen und als ein wenig ridikül empfunden werden.» Doch steckt mehr dahinter, denn es lag «in den Augen des Oberförsters, besonders wenn er lachte, der Schimmer einer fürchterlichen Jovialität». Dieser Oberförster verkehrt in der städtischen Gesellschaft und hält sich zugleich im Waldgebiet allerlei ihm ergebenes Gesindel, entfacht dann einen schrecklichen Eroberungskrieg gegen die Marina, mit Mord und Totschlag. Das ist nun also, versichert mir die Sekundärliteratur, Hitler. Vielleicht auch, wegen der Jovialität, Hermann Göhring. Die Figur könnte auch von Stalin angeregt worden sein (der ja ebenfalls eine joviale Seite besass). Aber ist er von der Beschreibung her – unermesslich reich und von einem «Hauch von alter Macht umwittert» – nicht eher ein preussischer Junker, also zum Beispiel der Feldmarschall und Reichspräsident Hindenburg? Na, kommt ja nicht so drauf an. Er verkörpert auf jeden Fall so etwas wie den bösen Gewalttäter.

Recht gut gesehen

Von dieser Gestalt nimmt die Allegorie des Aufstiegs einer mörderischen Anarchie ihren Ausgangspunkt. Denn die Gegenwart ist auch in der Marina von Zweifeln zerfressen. Nach dem ersten Auftritt des Oberförsters kommt eine knappe Beschreibung über die einem kulturellen Verlust folgende Flucht aus der Gegenwart. «Es gibt Epochen des Niederganges, in denen sich die Form verwischt, die innerst dem Leben vorgezeichnet ist. Wenn wir in sie geraten, taumeln wir als Wesen, die des Gleichgewichts ermangeln, hin und her. Wir sinken aus dumpfen Freuden in den dumpfen Schmerz, auch spiegelt ein Bewusstsein des Verlustes, das uns stets belebt, uns Zukunft und Vergangenheit verlockender. Wir weben in abgeschiedenen Zeiten oder in fernen Utopien, indes der Augenblick verfliesst.» (32f.)

Das ist recht gut gesehen, auch die Fortsetzung: «Sobald wir dieses Mangels innewurden, strebten wir aus ihm heraus. Wir spürten Sehnsucht nach Präsenz, nach Wirklichkeit und wären in das Eis, das Feuer und den Äther eingedrungen, um uns der Langeweile zu entziehen. Wie immer, wo der Zweifel sich mit Fülle paart, bekehrten wir uns zur Gewalt – und ist nicht sie das ewige Pendel, das die Zeiger vorwärtstreibt, sei es bei Tage, sei es in der Nacht? Also begannen wir, von Macht und Übermacht zu träumen und von den Formen, die sich kühn geordnet im tödlichen Gefecht des Lebens aufeinander zubewegen, sei es zum Untergange, sei es zum Triumph.» (33)

©Klett-Cotta Verlag

Ja, dieser Mechanismus liess sich an etlichen Intellektuellen verfolgen, schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs und dann bei so etwas wie dem Futurismus und Intellektuellen der konservativen Revolution wie Jünger selbst; kritisch sei nur angemerkt, dass Langeweile doch eher ein bürgerliches Phänomen ist und die Massenwirksamkeit des Faschismus nicht zu erklären vermag. Letzteres versucht Jünger ansatzweise in der folgenden Passage: «Gerade hierin lag ein meisterhafter Zug des Oberförsters; er gab die Furcht in kleinen Dosen ein, die er allmählich steigerte, und deren Ziel die Lähmung des Widerstandes war. Die Rolle, die er in diesen Wirren, die sehr fein in seinen Wäldern ausgesponnen wurden, spielte, war die der Ordnungsmacht, denn während seine niederen Agenten, die in den Hirtenbünden sassen, den Stoff der Anarchie vermehrten, drangen die Eingeweihten in die Ämter und Magistrate, ja selbst in Klöster ein, und wurden dort als starke Geister, die den Pöbel zu Paaren treiben würden, angesehen. Der Oberförster glich einem bösen Arzte, der zunächst das Leiden fördert, um sodann dem Kranken die Schnitte zuzufügen, die er im Sinne hat.» (55)

Diese Passagen hatte Stuart Hood einst offenbar für den internen Gebrauch während der Entnazifizierung übersetzt. In der zuletzt zitierten Stelle wird ja knapp die Arbeitsteilung einer Machtergreifung skizziert. Das würde einen etwas luftigen, aber nicht uninteressanten kurzen Essay abgeben. Aber Jünger wollte sein Thema weiter und breiter gestalten. Deshalb entwarf er eine eigene Welt und eine Handlung und einen (kurzen) Roman. Zuerst wird die Landschaft mit verschiedenen Völkerschaften und Kulturstufen dargestellt, mit typisierten Gruppen, stilisierten Figuren und sprechenden Namen, etwa die mörderischen Brandstifter als «Feuer-Würmer». Zuweilen wirkt das wie in Tolkiens Herr der Ringe oder bei Game of Thrones. Also ein bisschen pubertär.

Waldgelichter und andere Gestalten

Jenseits der von Rebbauern zu einem wohlhabenden Gemeinwesen aufgebauten Marina, in der Campagna, leben die Hirtenvölker, «wild und ungezähmt», aber im Herzen gut und gastfreundlich. Dagegen sammelt der alte Oberförster in seinem Waldgebiet alle Vaganten, Ketzer, versprengten Räuberbanden, Hexenmeister, Fahrende, Gauner und Betrüger. «Mit diesen Scharen gingen Raub und Händel landaus, landein [..] So floss von hier ein dunkler Blutstrom in die gebahnte Welt.» (61) Auch die Hirten werden langsam verdorben durch Agenten des Oberförsters. Die traditionellen Hirtenbünde, rau doch mit eigenem Ehrenkodex, werden zu Pressgangs, erheben von den Grundherren immer grösseren Tribut; dann gehen sie schliesslich zu Brandstiftungen und Ermordungen über.

Dann sind da die eigentlichen Jäger, das «Waldgelichter, wie es im Buche steht, klein, blinzelnd und mit dunklen Hängebärten in den zerfressenen Gesichtern; ein Rotwelsch sprechend, das von allen Zungen das Übelste sich angeeignet hatte und wie aus blutigem Kot gebacken war.» (56) Dazu die Förster, die das Land vermessen, um es zu enteignen. Denn der Oberförster will die Zivilisation vernichten und Urwald an ihre Stelle setzen. Selbst Künstler schliessen sich ihm an, propagieren die Rückkehr zu einer angeblich urtümlichen Hirtenkunst. Natürlich spielen auch «Weiber als Lockvögel feinster Sorte» (63) ihre herkömmliche Rolle.

Unter den Hirten wehrt sich vor allem der Grossgrundbesitzer Belovar, seinerseits ein ungebärdiger Krieger. Er bietet dem Ich-Erzähler und dessen Bruder eine Perspektive an. «Als die Vernichtung stärker an die Marmor-Klippen brandete, lebten Erinnerungen an unsere Mauretanier-Zeiten in uns auf, und wir erwogen den Ausweg der Gewalt. […] Wir erwogen, mit Belovar und seiner Sippe nachts auf die Jäger Jagd zu machen und jeden, der uns ins Garn geriet, zerfetzt am Kreuzweg aufzuhängen, um so den Gäuchen aus den Tannicht-Dörfern in einer Sprache zuzusprechen, wie sie ihnen allein verständlich war.» (78) Gegen solche gewalttätigen Visionen entscheiden sich die beiden Brüder vorerst für den geistigen Widerstand und die Pflege ihrer Pflanzensammlung zur Einsicht in das Wirken der Welt. Doch dann entdecken sie die Folter- und Hinrichtungsstätte des Oberförsters, wo Schädel verbleichen und Menschenhände an die Scheunenwand genagelt sind. Und dessen Übergriffe werden dreister. «Es war doch schliesslich kein Zufall und kein Abenteuer, dass der Alte mit dem Lemuren-Volke aus dem Wälder-Dunkel herauszutreten begann und Wirksamkeit entfaltete. Gelichter dieser Art ward früher gleich Gaudieben abgefertigt, und sein Erstarken deutete auf tiefe Veränderungen in der Ordnung, in der Gesundheit, ja, im Heile des Volkes hin.» (113) Eine gelinde Hoffnung wird in den altehrwürdigen Adel gesetzt, aber der wehrt sich nur in Gestalt zweier Einzelner. Also zieht der Ich-Erzähler schliesslich mit Belovar in die Schlacht. Zwei schreckliche Hundemeuten werden aufeinandergehetzt; diese Ragnarök endet mit der vollständigen Vernichtung von Belovars Truppe, der Niederbrennung der Marina und der Vernichtung aller Kulturgüter.

Eine solche Allegorie dürstet nach Aufschlüsselung. Der opportunistische Söldnerführer, der sich schliesslich dem Oberförster anschliesst: die Generäle der Reichswehr? Der Fürst, der sich als einer der wenigen Adligen auflehnt: der Widerstandskämpfer Adam von Trott von Solz, wie sich einem Tagebucheintrag von Jünger entnehmen lassen soll. Die Folterstätte mit den gebleichten Schädeln – die frühen KZs! Aber die Allegorie ist schon früh auf Grenzen gestossen. Soll mit den Hirtenvölker, mit deren Verführung die Unordnung beginnt, tatsächlich die Bauernschaft abgebildet werden, oder geht es breiter um das ländliche und städtische Proletariat? Die Bünde, die das Land verheeren:  Sind damit die SA-Sturmtrupps gemeint, oder vielleicht nicht auch die Kommunisten, da doch den armen Grundherren Tribute abgepresst werden. Jedenfalls verengt sich die Darstellung immer mehr auf eine klare Polarität: Vielfältiges Gelichter gegen die Hüter des Geistes und der Kultur.

Am Schluss können sich der Ich-Erzähler und sein Bruder Otho aus den verheerten Landstrichen nach Alta Plana retten. Soll da, 1939 geschrieben, England als Retterin der Demokratie erscheinen ? Oder Russland? (Wohl eher nicht) Vielleicht der Mond, jenseits der entfremdeten Welt? Oder die nostalgisch verklärte Vergangenheit? Die Allegorie meint alles und nichts.

Voller Ranküne

Ernst Jünger ist, so sagt Wikipedia mit einiger Berechtigung, der am heissesten diskutierte deutsche Schriftsteller der letzten hundert Jahre. Nicht der erfolgreichste, schon gar nicht der beste, aber derjenige, der die meisten Kontroversen ausgelöst hat.

Dass überhaupt gestritten werden kann, bleibt allerdings dubios. Zweifellos war Jünger doch ein unverbesserlicher Militarist. Zweifellos war er ein rabiater Nationalist. Zweifellos war er ein Antidemokrat. Zweifellos war er in einer bestimmten politischen Konstellation ein ideologischer Vorbereiter des nationalsozialistischen Regimes. Seine Publizistik in den zwanziger und frühen dreissiger Jahren ist eindeutig.

Womöglich hat er sich ab 1933 mit den Nazis nicht gemein gemacht. Aber das ist das treffende Verb: nicht gemein machen. Die Nazis in ihrer konkreten Ausprägung konnten seinen ästhetischen Ansprüchen nicht genügen. Sein Ideal war eben der gebildete Feudalherr und Heerführer. Ist er dadurch zu einem Gegner der Nazis geworden? Es gibt Gerüchte, dass Goebbels, als Auf den Marmorklippen 1939 in Deutschland erschien, Jünger ins KZ stecken wollte. Tatsache ist allerdings, dass das Buch in Nazi-Deutschland zwischen 1939 und 1942 in sechs Auflagen erscheinen konnte. Schliesslich hatte Jünger ein früheres Buch Hitler mit einer persönlichen Widmung geschenkt. Und wenn die Marmorklippen auch nicht mehr umstandslos eine Umwälzung feiern, konnte man sich daraus dennoch die eigene Weltanschauung herauspicken. Das bärtige Waldgelichter konnte auch antisemitisch gelesen werden. Die Allegorie lässt vieles zu.

Natürlich, der Ich-Erzähler ist nicht der Autor. Aber die Erzählhaltung des Werks entspricht derjenigen Jüngers. Die Aufhäufung gewalttätig abwertender Beschreibungen verrät eine elitäre, biologistisch unterlegte Verachtung der Menge, der Masse, des Pöbels, den nicht nur der Oberförster «zu Paaren treiben» will.

Man hat Jüngers Haltung als unerbittliche Beobachtungsgabe gerechtfertigt und seine eherne Sprache gerühmt. Auf den Marmorklippen ist schwülstig und geschmäcklerisch und voller Ranküne. Die Haltung ist nicht scharf sezierend, sondern ebenso mystifizierend wie verächtlich. Über den Faschismus lernt man aus diesem Buch kaum etwas.

Als Auf den Marmorklippen 1951 wieder erschien, diente es a) der wundersamen Verwandlung des rabiaten Nationalisten und Wehrmachtsoffiziers Jünger zum frühen Antifaschisten der inneren Emigration, war es b) im Zeichen des Totalitarismus bereits zum antibolschewistischen Pamphlet erklärt geworden, und reichte es c) angeblich weit über die politische Allegorie in die reine Dichtung hinaus.

Doch die Allegorie ist defizitär. Die Haltung elitär. Und das Kunstwerk ein tönerner Koloss. So bleibt das Buch ein Musterbeispiel, wie eine allegorische Schreibweise sich opportunistisch alle Ausflüchte offenhält.

Stefan Howald


Ernst Jünger: «Auf den Marmorklippen». Verlag Günther Neske. Pfullingen 1951 (Ausgabe im 50. und 51. Tausend). 162 Seiten, gebunden.

Im bücherraum f steht das Buch in der Abteilung L.2, deutschsprachige Literatur.