Eine kleine Geschichte aus der Opposition bücherräumereien (XXXXII)

Welche Schätze aus verschiedenen historischen Epochen ein Buch von Erich Mühsam preisgibt.

Vor knapp fünf Jahren hatte ich bei einem Büchertausch in D. ein Buch nach Hause mitgenommen, das mir nach meinen Vorurteilen über das Dorf in der Agglomeration Zürich für diesen Ort doch als eher ungewöhnlich erschienen war, nämlich «Publizistik / Unpolitische Erinnerungen» des Anarchisten Erich Mühsam, erschienen 1978 als Band 2 der «Ausgewählten Werke» im Verlag Volk und Welt, Berlin/DDR, hier in der zweiten Auflage von 1985.

Dem Buch lagen einige Dokumente bei, und zwar aus verschiedenen historischen Schichten. Als spektakulär stellte sich meines Erachtens eine zerfledderte «Zahlkarte» heraus, die auf den Namen Erich Mühsam lautete und offenbar in den 1920er-Jahren für die damals von ihm herausgegebene Monatszeitschrift «Fanal» verwendet worden war. Mit der vorliegenden Nachkriegsausgabe hing sie nicht direkt zusammen; aber sie stellte doch ein Artefakt dar, aus dem der Hauch der Geschichte aufstieg.

Dagegen schenkte ich den anderen Unterlagen keine weitere Aufmerksamkeit, da sie aus den 1980er-Jahren stammten und offensichtlich nichts mit Mühsam selbst zu tun hatten.

Kürzlich nun bin ich auf verwickelten Wegen an diese Ausgabe erinnert worden; und nach einigen Recherchen lässt sich aus den weiteren Unterlagen eine ganze Geschichte aus der Endpase des kurzen 20. Jahrhunderts rekonstruieren.

Es handelt sich um drei Dokumente. Da ist, erstens, eine handgeschriebene, doppelt beschriftete, in mehreren Farben gehaltene, dann kopierte Einladung zu einer «Taufkreisfete» für den 8./9.2.86. Dazu kommen zwei kleine Papiertaschen, die mich fatal an jene Säckchen erinnerten, in denen wir im Militärdienst jeweils den Sold bekamen. Das eine Tütchen war mit einem Namen markiert, ansonsten aber leer. Auf dem andern stand auf der Vorderseite ebenfalls ein Name, auf der Rückseite offensichtlich eine Einkaufsliste – Milch, Butter, Brot, Wurst undsoweiter –, und im Innern fanden sich ein halbes Dutzend Fotografien, Negative wie Abzüge im Passformat, eines bärtigen Mannes.

Wahrscheinlich hatte mich einst der Begriff «Taufkreisfete» abgeschreckt, der mich irgendwelche freikirchlichen, gar esoterischen Kreise wittern liess. Jetzt schaute ich die Karte erstmals genauer an. Sie wies eine Adresse für die Fete auf, dazu einen handgezeichneten Ausschnitt eines Stadtplans mit sechs Strassennamen. Nahe liegend waren Berlin oder München oder Hamburg, doch die wiesen zwar drei oder vier der verzeichneten Strassennamen auf, aber nicht alle. Nach etlichem Suchen allerdings tauchte im Zusammenhang mit einem der eher ungewöhnlicheren Strassennamen der Hinweis auf Jena auf, und schliesslich liess sich die Örtlichkeit genau lokalisieren. Jena, klar doch, die Mühsam-Ausgabe war ja in der damaligen DDR erschienen.

Was dem Begriff «Taufkreisfete» sogleich eine andere Färbung verlieh. Eine weitere Internetsuche anhand der Kombination dieses Begriffs mit Jena führte zu einer umfangreichen Dissertation, die 2004 von Henning Pietzsch an der TU Berlin eingereicht worden war: «Opposition und Widerstand. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit ‹Offene Arbeit› in Jena 1970 – 1989». Mit der Offenen Arbeit waren jene Bemühungen gemeint, innerhalb der evangelischen Kirche der DDR Freiräume für Jugendliche zu schaffen, die zeitlich und örtlich unterschiedlich zu mehr oder weniger oppositionellen, regimekritischen Aktivitäten genutzt worden waren.

Jena, in den 1970er-Jahren eine Kreisstadt von 100 000 EinwohnerInnen, besass durch die Universität und die für die DDR hochtechnologisierten Fabriken von Carl Zeiss eine relativ grosse Bildungsschicht, aus der sich verschiedene Subkulturen speisten. Bereits 1973 hatte Lutz Rathenow einen Literaturzirkel gegründet, dem sich bald auch Jürgen Fuchs anschloss. Der Lyrikzirkel war einerseits mit der Jungen Gemeinde Stadtmitte des «agilen Vikars Thomas Auerbach», wie es in einem Artikel in einem Sammelband «Boheme und Diktatur in der DDR» heisst, verknüpft, aber auch verbunden mit der oppositionellen Berliner Szene um Robert Havemann und Wolf Biermann – dessen von zahlreichen Stasimitarbeitern überwachte Besuche in Jena brachten schon beinahe so etwas wie Glamour in die Kleinstadt.

Nach solchen ersten historischen Exkursen kehrte ich zur Karte aus dem Februar 1986 zurück. Sie war, entzifferte ich jetzt, auf der Rückseite von einem «Constantin» unterschrieben. Womit die Geschichte noch etwas abenteuerlicher und düsterer wurde. Nach etlichem Suchen fand sich nämlich auf Seite 151 der erwähnten Dissertation über die kirchlich angeleitete Opposition in Jena ein Hinweis auf den Vikar Michael «Konstantin» Stanescu, der in Jena mehrere «Taufkreise» initiiert habe.

Stanescu hatte sich allerdings 1990 selbst als Informeller Mitarbeiter (IM) der Stasi enttarnt.

1968 wegen Unterstützung des Prager Frühlings kurzzeitig inhaftiert, wurde er bei dieser Gelegenheit umgedreht und diente seit 1970 als IM «Bartholomäus Runge». Als Jugendseelsorger sollte er insbesondere kirchliche Kreise bespitzeln. Seine Berichte an den Nachrichtendienst füllen nicht weniger als sechzehn Aktenbände. Für diese Spitzeltätigkeit erhielt er mehrere Auszeichnungen, etwa die Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee (NVA) in Silber, dazu regelmässige finanzielle Entschädigungen. Offensichtlich verfügte er, wie ihm die Berliner Dissertation von 2004 attestiert, über etliche «pädagogische Begabung». So übte er ab 1974 in der Jungen Gemeinde Stadtmitte in Jena beträchtlichen Einfluss aus. Einerseits versuchte er, diese zu entpolitisieren und auf religiöse Themen im engeren Sinne umzupolen, andererseits durch eine diffuse, religiös fundierte Sozialismusvorstellung bei der Sache der DDR zu halten.

Die auf die Ausbürgerung von Wolf Biermann folgende Protestbewegung sah sich 1976/77 massiven Repressionen ausgesetzt, so dass die Jenaer Protestszene kurzzeitig zerbröckelte; damit nahm auch die Bedeutung von IM «Bartholomäus Runge» für die Stasi ab. Nach 1980 artikulierte sich langsam eine neue Generation jugendlicher Oppositioneller vor allem im Rahmen der international aufbrechenden Friedensbewegung; die Forderung nach gegenseitiger Abrüstung in West und Ost erlaubte scheinbar Kritik an der DDR-Politik, ohne unmittelbar die Systemfrage zu stellen. Das DDR-Regime sah das freilich anders und reaktivierte in Jena Stanescu. Dieser begann 1983 mit dem Aufbau eines «Taufkreises», der strategisch als Gegengewicht zu neuen eigenständigen Gruppen gedacht war. Neben religiösen Themen bot er auch «Themen der praktischen Lebenshilfe» an, wie es in der Dissertation heisst, deren Autor Henning Pietzsch 1984 eben diesem Jenaer Taufkreis angehört hatte. In einer Regionalstudie zu Hermsdorf, wo Stanescu seit 1986 gewohnt und gearbeitet hatte, fanden sich weitere Angaben zu dem 1996 verstorbenen Stanescu, sowie drei Fotografien, die letzte von 1979. Sie zeigt einen leicht asketisch und vergeistigt wirkenden Mann mit länglichem Bart vor der Lutherischen Kirche Jena. Die im Tütchen im Mühsam-Buch vorgefundenen Fotografien liessen vor allem wegen des andersartigen Haarschnitts keine eindeutige Identifikation zu, doch fand sich noch ein zweites, anderes Passbild, das eindeutig Konstantin Stanescu aka «Bartholomäus Runge» zeigte. Dabei liess sich, vielleicht auch nur in der Rückschau, angesichts der randlosen Brille, dem Schnauz und dem Bart sogar eine Stilisierung nach dem Vorbild Erich Mühsam ablesen. So weit, so elendiglich.

Blieben die Namen auf den beiden Papiertüten. Der eine liess sich als C. H. identifizieren, was hier aus bestimmten Gründen wieder verschlüsselt werden soll. Tatsächlich fand sich ein C. H. vielfach in der erwähnten Dissertation, zwischen 1977 und 1987 als unerschütterliches Mitglied der oppositionellen Szene, zuerst bei der Jungen Gemeinde Stadtmitte, dann 1983 als Mitgründer der Jenaer Friedensgemeinschaft. Als solcher verweigerte er nachträglich den DDR-Wehrdienst. Von einer langjährigen Gefängnisstrafe bedroht und von einem Jahrzehnt an Schikanen zermürbt, stimmte er 1987 zusammen mit seiner Partnerin M.A. einer Zwangsausreise zu – ebenso wie Henning Pietzsch, der nach Promotion und verschiedenen Studien in der Zwischenzeit in der Thüringer Staatskanzlei bei der Aufarbeitung von Stasi-Verbrechen mitwirkt.

Über C. H. aber fand sich eine ein wenig andersgeartete Spur. 2009 wurde im Theaterhaus Jena das Projekt «Der dritte Weg – eine theatralische Demonstration» über die lokale Protestbewegung in der damaligen DDR inszeniert. Das Programmheft enthält auch einen Beitrag von C.H., der die damaligen eigenen Aktivitäten ziemlich schonungslos als «kindergartenmässig» und «komplette Softvariante» bezeichnet, sich zugleich angesichts seiner Erfahrungen, der Kontinuität von ehemaligen DDR-Richtern und Professoren bis 2009 sowie der heuchlerischen Haltung des Grossteils der Bevölkerung schon beinahe angeekelt von seiner Heimatstadt abgewandt, andererseits im Westen damit begonnen hat, mit MigrantInnen zu arbeiten. Denn, so sagt er: «gebrochene Biografien, unzeitgemässe Biografien, Ungleichheiten kann ich voll verstehen».

Bleibt vorläufig noch die Frage, wie diese Mühsam-Ausgabe samt ihren Beilagen in einen Büchertausch nach D. im Zürcher Unterland gelangt ist.

Stefan Howald